Der unsichtbare Killer
immer auf den verräterischen Minzgeruch inmitten der allgegenwärtigen Gerüche des Dschungels geachtet. Erst als der MTJ am Felsen befestigt war, begaben sie sich mit dem medizinischen Notfallpäckchen hinein, um so gut wie möglich zu helfen.
Nachdem sie durch das zerbrochene Fenster ins Innere des Fahrzeugs geklettert und angeekelt vom Blut und Leiden innerlich zusammengezuckt war, wechselte sie in eine Art Automatismus: Erkenne, was zu tun ist, schätze ab, wie es zu tun ist, und mach es einfach. Zieh den scheußlichen Zürgelbaumast aus O’Rileys Oberschenkel und achte dabei nicht auf seine Schmerzensschreie, sondern versiegle die aufgerissene Arterie mithilfe der schlauen technischen Geräte im Notfallpack. Für Emotionen war da kein Platz. Angela war gut in so etwas, gut darin, ihre Gefühle zu isolieren und zu ignorieren. Alle waren dankbar und voll des Lobes gewesen für das, was sie getan hatte, ganz besonders, als sie gesehen hatten, um wie viele Verletzungen sie sich gekümmert hatte. Sie lächelte schwach, als sie sich daran erinnerte, wie überrascht sie gewesen waren; sogar Paresh war beunruhigt über ihre blutgetränkte Kleidung gewesen, als sie sich schließlich wieder über den Rand der Schlucht gehievt hatte.
Man konnte das Mädchen von New Monaco wegnehmen, aber man konnte dem Mädchen nie New Monaco wegnehmen.
Als sie das letzte Mal etwas erlebt hatte, das für die meisten Menschen ein lähmender emotionaler Schock gewesen wäre, war es ihr gelungen, sich rasch von jedwedem törichten kreatürlichen Geisteszustand zu trennen und nur noch logisch zu funktionieren. Es war der reine Überlebensinstinkt gewesen. Und wie sehr hatte sie den schon einmal benötigt …
Angelas Juwelen befanden sich in einem begehbaren Schrank, der ein Teil ihrer Schlafzimmersuite im väterlichen Herrenhaus auf New Monaco war. Jetzt stand sie mittendrin und sah die aberhundert kleinen Schubladen durch. Fast war es, als würde sie in einer Stahlkammer mit Schließfächern stehen, nur dass es hier keine Schlösser gab. Und jetzt auch keinen Schutz mehr. Von der eigenen Belegschaft bestohlen zu werden, hatte immer Anlass zu einer gewissen Besorgnis gegeben, und daher hatte die hauseigene KI den begehbaren Juwelenschrank ständig im Blick gehabt. Die einzigen Menschen, die sich über die KI hinwegsetzen konnten, waren sie und Raymond gewesen. Angela hatte sich über sie hinweggesetzt und das System ausgeschaltet.
Sie ging zur Konsole hinüber. Hier wurde das Bestandsverzeichnis aufbewahrt, und darüber hinaus gab es ein nützliches Stilfindungsprogramm, das ihr half, ihre Garderobe passend zusammenzustellen und geeignete Schmuckstücke zu wählen. Sie schob die Hand in den Keyspace, und ihre E-I übermittelte ihren Code. Es waren nicht die großen, teuren Schmuckstücke, für die sie sich jetzt interessierte. Unter all den exquisiten Stücken, die sie sich im Laufe der Jahre zusammengekauft oder die sie geschenkt bekommen hatte, befanden sich auch viele kleinere Armreifen, Ringe, Diademe und Halsketten. Es waren Hunderte – so viele, dass sie gar nicht genau wusste, wie viele.
Die Schubladen öffneten sich lautlos. Lichtflecken materialisierten sich überall im Zimmer, als hätte jemand eine Discokugel herabsinken lassen. Und dabei entstand das Schimmern nur dadurch, dass sich das starke, monochrome Licht der Lichtleisten des begehbaren Schranks in all den herrlich geschliffenen Diamanten brach. Während sie herumging und sich ihre Schätze ansah, schlängelte ihre E-I sich tief in die Registry-Levels der KI und löschte dabei bestimmte Daten.
Ein Icon in Grün und Purpur tauchte in ihrer Net-Linsen-Projektion auf – Marlak rief sie an. »Stell ihn durch«, wies sie ihre E-I an.
»Tut mir leid, Angela«, sagte Marlak. »Aber die Agenten des Rats kommen gerade an.«
»Das war zu erwarten. Ich bin gleich unten. Ich ziehe mich gerade um. Kann sie ja wohl kaum in meinem Partykleid empfangen, oder?«
»Natürlich nicht. Ich werde es ihnen sagen.«
Als sie den begehbaren Schrank verließ und in ihr Schlafzimmer zurückkehrte, fand sie ihre Zofe Daniellia dort. Angela bemerkte sofort, dass die Frau sich verändert hatte. Sie ignorierte den Mangel an Höflichkeit jedoch und begann, die Bänder ihres malvenfarbenen Ballkleids zu öffnen.
»Das mit Ihrem Vater tut mir leid«, sagte Daniellia.
»Danke. Wo ist Lizzine?« Ihre Dermatologin. Sie sollte eigentlich hier sein und sich darum kümmern, dass sie diese
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