Der unsichtbare Killer
Gateways berichteten. Die verarmten Flüchtlinge erzählten Geschichten von den Mühen, die sie auf sich genommen hatten, berichteten davon, dass sie alles ausgegeben hatten, was sie besaßen, um vor Verfolgung, Gewalt, Intoleranz und unterdrückenden Ideologien zu fliehen, beschrieben, wie sie gezwungen gewesen waren, alles zurückzulassen, in einigen Fällen sogar geliebte Menschen und Familie. Die Länder und Regierungen, die sie erwähnten und eifrig denunzierten, überraschten Ian – er hielt sie nicht für besonders korrupt oder repressiv. Aber andererseits waren seine Überzeugungen auch niemals so stark gewesen, dass sich Direktorate oder Volkskomitees oder Geheimdienste oder die Religions-Polizei daran hätten stören können.
Diese Flüchtlinge jedoch wurden von Zorn und Angst getrieben. Sie waren entschlossen, die Zuflucht der Independencys zu erreichen, wo ihr neues Leben in fröhlicher Freiheit beginnen konnte und die Vergangenheit endlich hinter ihnen zurückblieb. Nun waren für sie die Sonnenflecken und das Wetter nur eine Ausrede, die sie davon abhielt, sich mit Kameraden, Brüdern und Glaubensgenossen zu vereinen; eine Ausrede, entworfen unter dem Diktat unsichtbarer, nicht einmal durch Wahlen legitimierter Bürokraten. Sie hatten sich aus Gefängnissen oder Schlimmerem freigekämpft; sie waren wirklich nicht die Art Leute, die sich von über die Straße gespannten Plastikbarrieren lange aufhalten lassen würden. Das Rote Kreuz hatte vorübergehende Unterkünfte für sie errichtet, aber es baute sich sehr schnell Hass auf.
Ian hatte dreißig Eurofrancs darauf gesetzt, dass es am Freitag zum ersten Krawall kommen würde. Constable Merkrul, der Buchmacher der Market Street, hatte ihm keine guten Konditionen eingeräumt.
Um neun Uhr, als er gerade seine zweite Tasse Tee aus der Kantine trank, berichtete seine E-I, dass eines der Überwachungsprogramme am Bahnhof von Newcastle eine Aktivität aufzeichnete. Ian schaltete sorgfältig sein offizielles Log ab und holte sich die Überwachungsdaten auf sein Raster.
Boris Attenson nahm den Expresszug nach London. Ian lächelte grimmig den Mesh-Feed des Bahnhofs an, der zeigte, wie Boris und zwei Kollegen auf dem langen, gekrümmten Bahnsteig zu den Wagen der ersten Klasse ganz vorne im Zug marschierten. Er verabscheute die Arroganz, die der Mann im Anzug zur Schau stellte, den beiläufigen Reichtum, der in Form seiner handgefertigten Schuhe und dem langen, maßgeschneiderten Kamelhaarmantel zutage trat. Er verabscheute das brüllende Gelächter, während sich die drei unterhielten. Verabscheute das Gesicht.
Ian wechselte auf einen anderen Überwachungskanal. Heute trug Tallulah einen amethystfarbenen Faltenrock und eine Bluse in dunklem Orange unter einer weißen Jacke mit goldenen Knöpfen und einem breiten Kragen. Er dachte, dass sie in diesen Farben gut aussah; sie ließen ihr kastanienbraunes Haar hübsch hervorstechen. Sie hatte zu ihrer üblichen Zeit den Metrozug nach Gateshead genommen, dann war sie zu ihrem Büro in der Bensham Road gelaufen, um kurz vor halb neun dort anzukommen. Er betrachtete das Bild aus den öffentlichen Meshes, die auf die Gebäude an der Straße gekleistert waren, und freute sich über das lebhafte Lächeln auf ihrem Gesicht, als sie auf den letzten fünfundzwanzig Metern eine Kollegin traf, mit der sie dann angeregt plauderte.
Seine Beobachtung endete am Eingang des Gebäudes. Es wäre schwierig gewesen, auf die Meshes im Inneren zuzugreifen; man konnte es machen, aber die Autorisierung eines Echtzeitzugriffs auf ein Privatgebäude würde im Netzwerk der Market Street vermerkt werden; nicht einmal Elstons gephishte Codes konnten das verhindern.
Es machte Ian nichts aus. Er würde sie um zwanzig vor eins wiedersehen, wenn sie ihre Mittagspause antrat. Gewöhnlich fuhr sie dann mit Freunden mit der Metro zurück in die Innenstadt. Sie gingen in Cafés oder eine der kleineren Restaurantketten. Am Montag, als es sonnig gewesen war, war sie mit einer ganzen Gruppe aus ihrem Büro über die Drehbrücke gegangen und hatte sich in den Garten eines Pubs in der Nähe der Guild Hall gesetzt, der über den Fluss hinausblickte. An diesem Tag hatte sie ein Kleid mit Blumenmuster getragen, zusammen mit ihrer marineblauen Jacke, die sie wegen der anhaltend kühlen Luft, die vom Tyne herüberwehte, zugeknöpft gelassen hatte. Dieses Outfit gefiel ihm besser als das von heute; nicht, dass sie jemals etwas getragen hätte, das weniger
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