Der unsichtbare Kreis
Stunde und die folgende, und nur nicht an die letzte denken. Vierundzwanzig Wochen lang. Aber hatte Samuel nicht die Qual verdoppelt, indem er seine eigene verkürzte? Das hatte doch schon begonnen, als er ihm großmütig das Medikament überließ. Hatte er sich, ihn feige zurücklassend, jubelnd in die Unendlichkeit gestürzt, um den sinnlosen Qualen des gemächlichen Todes zu entgehen? Er hatte ihm zwölf Wochen unaufhaltsam verrinnenden Lebens geschenkt. Was sind vierundzwanzig Wochen angesichts der furchtbaren Tiefe des Alls? Und wenn Samuel gezögert hatte, den Helm mit einem Ruck aufzureißen? Wenn er noch lebte und nur nachsehen wollte, ob er noch etwas Brauchbares, Lebenswichtiges fände? Was wollte er für sich? Sein Schicksal war unausweichlich und sein Leben in Tagen zu messen. Vielleicht kann ich ihn abhalten, dachte Otis. Ich muß nachsehen, vielleicht hat er es nicht getan. Seine Hand suchte den Knopf des Öffners.
Das Außenschott klappte weg. Er stellte den Magneten ein und stieß sich ab. Das Schiff glitt unter ihm weg, bis der Sicherheitsmagnet ihn abbremste. Bewegungslos hing er neben dem Wrack im All. Mit einem kurzen Blick schätzte er das Ausmaß der Zerstörung ein, dann begann er den Rumpf des zerstörten Schiffes in gleichbleibend weiten Spiralen zu umkreisen. Sicher handhabte er das kleine Antriebsaggregat in seinen Händen.
Zwanzig Meter neben dem stumpfen Bug des Raumschiffes schwebte ein Raumanzug an einer Sicherheitsleine. Otis leuchtete ihn an. Auf dem Rückenteil des Anzugs leuchtete grell eine Zahl auf: Es war Samuel.
Er hatte den Halter der Arbeitsleine dicht neben der Außenantenne angelegt. Weder über Funk noch sonst gab er ein Lebenszeichen von sich. Otis landete bei der Antenne. Er zog Samuel an der Leine zu sich heran und drehte den Anzug mit dem Sichtfenster zu sich. Samuels Gesicht war leblos, die Augen geschlossen. Ab und zu blieb Otis vor dem Computerschirm stehen, dann nahm er seine nervöse Wanderung durch die Zentrale wieder auf. Der Automat kontrollierte Samuels Körperfunktionen, hin und wieder gab er eine Anweisung, die Otis befolgte, wenn er das geforderte Medikament fand. Die Werte veränderten sich nur zögernd.
Trotz der Schmerzen, die sich nun im rechten Bein konzentrierten, wollte er sich nicht setzen.
Was hatte Samuel da draußen getrieben? Was wollte er mit dem Werkzeug, das er in seinen Taschen gefunden hatte? Die Antenne? Aber senden konnten sie auf keinen Fall. War er ohnmächtig geworden, bevor er den Helm öffnen konnte? Es mußte etwas anderes gewesen sein, vielleicht etwas Lebenswichtiges. In Gedanken versunken, humpelte Otis auf und ab, grübelte über den sonderbaren Ausflug nach und konnte keinen Zusammenhang entdecken. Zuwenig kannte er seinen Gefährten, um dessen Handlungsweise deuten zu können. Was wußte er überhaupt von ihm? Nicht viel, nichts Konkretes. Er war ungewöhnlich, voller Überraschungen. Aber auch diesen Gedanken zweifelte Otis nach einiger Überlegung wieder an. Hätte er Samuel auf einer beliebigen Straße getroffen oder sich in einem Café an seinen Tisch gesetzt, würde er ihn für einen unscheinbaren Durchschnittstyp gehalten haben, mit dem man ein paar höfliche Worte über das Wetter und die Leute auf der Straße wechseln konnte. Doch plötzlich war sich Otis darüber klar, daß Samuel auch dies auf eine unverwechselbare fesselnde Art und Weise tun würde. Er gehörte zu den Menschen, die man eigentlich erst bemerkte, wenn sie gegangen waren, und man bedauerte es, sie nicht aufgehalten zu haben, um sich für die mangelnde Aufmerksamkeit bei ihnen zu entschuldigen.
»Du überlegst, was ich draußen wollte?«
Otis schreckte zusammen. Samuel saß aufrecht im Bett. Er fuhr die Rückenstütze aus und lehnte sich tief aufatmend dagegen. Als Otis zum Sprechen ansetzen wollte, schnitt er ihm mit einer Handbewegung das Wort ab.
»Kannst die Fragerei lassen. Es ist nicht mehr viel Zeit. Die Wirkung des Präparats läßt nach, deshalb war ich draußen.« Otis sah ihn gleichermaßen erstaunt wie verständnislos an. »Du hast doch keine Ahnung, wie man eine Empfangsantenne repariert«, fuhr Samuel fort. »Ich glaube, ich habe es geschafft.«
»Aber das ist doch Irrsinn!« rief Otis. »Du solltest dich besser schonen!«
Samuels Lächeln wirkte unecht, ein wenig mühsam. Schatten ließen sein Gesicht maskenhaft erscheinen. »Wozu?« fragte er. Sein harter Ton verhinderte den Ansatz eines Widerspruches. »Mach mir nichts vor. Wir wissen
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