Der unsichtbare Kreis
das?«
Der Sohn nickte.
»Das ist deine Pflicht. Sonst wäre alles sinnlos, was die Menschen je vor dir erschaffen, wofür sie gelebt und gekämpft haben. Würdest du das wollen?«
Der Knabe schüttelte den Kopf, kindlich und heftig.
»Diesen Haß mußt du entwickeln, sonst wird der Hypnonder unzufrieden sein mit dir.«
»Wer oder was ist O’Skryllis?« fragte der Vater.
Vertrauensvoll blickte der Sohn in sein lächelndes Gesicht. »Er ist schon lange hier, sehr lange.«
»Was heißt das?«
»Vielleicht dreihundert Jahre oder etwas länger.« »Was wollte er hier?«
»Er suchte Edelsteine.«
»Wie entsetzlich!« riefen die Eltern. »Er ist hoffentlich hier umgekommen.«
»Nein.«
»Er lebt und ist hier?« fragten voller Unverständnis die Erwachsenen.
»Ich weiß nicht.«
Die Eltern waren sich einig.
»Der Hypnonder wird es herausbekommen«, sagte der Vater. »Hab keine Angst, dieser O’Skryllis kann dir nichts tun.«
»Hast du eins dieser alten Bücher in die Finger genommen?« fragte die Mutter. »Wie konntest du das vor dem Hypnonder verbergen?«
Der Sohn reagierte nicht auf die Rüge. Er ließ sich von den Eltern an die Hand nehmen und lauschte, während sie sich über die Oberfläche des Ikarus bewegten, den Erklärungen des Vaters über die vormenschliche Zeit, da noch die Angst existierte und die Unvollkommenheit: Die Angst beschränkte den Verstand der Vormenschen und ließ sie vor der Vollkommenheit erschauern.
Die Überlegenheit des Vaters beruhigte den Jungen. Wie gewohnt, empfand er ein Gefühl tiefer Zuneigung für ihn. Nichts Schöneres konnte er sich vorstellen als die Erde in ihrer kunstvollen Ordnung, vollkommen wie ein synthetischer Stein. Niemand hatte diese Entwicklung aufhalten können; sie war Gesetz. Sollte er O’Skryllis verachten? War O’Skryllis nicht ein Teil von ihm geworden? Wo mußte er ihn suchen? Er mußte ihn finden, denn er war der einzige, der O’Skryllis helfen konnte.
Der Gedanke an das, was er tun mußte, ließ ihn zusammenfahren. Sein Gesicht verschloß sich.
Der Vater, unsicher, ob seine Erklärungen genügten, wollte einen Schlußpunkt setzen. »Es ist fast ein Wunder, daß unser Geschlecht die vormenschliche Ära überstand, ohne auszusterben oder in völligen Atavismus zurückzufallen. Wir erst haben den Menschheitsbegriff verwirklicht. Wir haben den Hypnonder geschaffen und den Hypsychosator. Angstfrei leben wir, dürfen Schönes schaffen.«
Die Mutter, das Zittern seiner Hand wahrnehmend, sagte: »Es gibt nichts Logischeres, als dem Hypnonder zu vertrauen, nichts Schöneres.« Ihre Stimme schmeichelte. »Ich bin sicher, du wirst die Überprüfung glänzend bestehen. Du bist ein guter Junge.« Der Blick des Sohnes schweifte in die Ferne. Das Licht der Sonne drängte gegen Schatten. Hin und her wogte der Kampf wie zwischen gleichstarken, störrischen Gegnern, und nur der Tod des einen konnte der Welt die Ruhe bringen.
Kampf!
Vernichtung!
Sieg!
Angewidert wandte er sich ab. Seine Füße stießen gegen Steine und Geröll. Eine zähe Masse hing an seinen Beinen. Nicht mehr weitergehen, keinen Schritt mehr. Doch das Licht der Sonne lockte. Schatten zuckten zurück. Sie gingen weiter durch die nach einem wilden Sturm erstarrte Landschaft, und nur die Steine hemmten seinen Schritt.
Plötzlich war er wieder da. Der Ruf! Vorwärts, Schritt für Schritt, Steine beiseite stoßen. Wo bist du, O’Skryllis? Wie um sich seiner zu erwehren, flüsterte der Knabe leidenschaftlich: »Ich hasse alle rohen Dinge, ich hasse die Unreinheit der Natur. Pfui!«
»Mein Lieber«, sagte die Mutter, »beruhige dich. Ich will dir meine Wangenplättchen aus rotem Opal schenken.« Und schelmisch: »Ich weiß, du magst sie.«
Der Junge entzog sich seinen Eltern. Sie ließen es geschehen. Nach einigen Schritten drehten sie sich um und winkten ihm mit leichter, fröhlicher Geste.
Zögernd setzte der Sohn einen Fuß vor und verharrte. »Hört ihr nicht?« fragte er leise.
»Was?«
Qualvoll, ängstlich, bittend rief der Fremde.
»Nein«, raunte der Knabe, »nein, nein, ich kann es nicht.«
»Sagtest du etwas?« fragte die Mutter.
Der Sohn hob lauschend den Kopf. Jetzt hörte er die Stimme ganz deutlich. Sie flehte, forderte, wurde Befehl tief in seinem Innern. Eine unbekannte Furcht setzte seine Füße in Bewegung.
Ehe die Eltern begriffen, was geschah, war er zwischen den Felsen verschwunden. Ihr Ruf erreichte ihn nicht. Er hastete durch die Dunkelheit der Ikarusnacht jenem glimmenden Licht entgegen,
Weitere Kostenlose Bücher