Der unsichtbare Mond
wahrscheinlich früher oder später auftauchen werde, wenn du hier bist. Und wenn ich hier bin, könnt ihr beiden wahrscheinlich Zutritt zu Mutters geschlossenem Magazin erhalten.«
Die Vorhänge teilten sich und der Sohn der Kawaminamis betrat die Haupthalle, die Arme voll beladen mit Reißschienen und Pergamentpapierrollen. Er war groß und schlank – ein Architektur-Student, dessen Hauptbeschäftigung es zu sein schien, in der Bibliothek seiner Eltern zu lesen und Klausuren zu schreiben. Und wenn er sich nicht seinen Studien widmete, dann studierte er die Architektur von Merediths Körper.
»Hallo, Meredith«, sagte er fröhlich und küsste sie auf die Stirn. »So war es gedacht, oder?«
»Ganz genau«, sagte Hjerold ohne eine Spur von Beschämung. »Ich vermute, dass es uns mit dem Material in eurer Bibliothek und meinem Verständnis der Wolken am Himmel und des Wassers im Krug gelingt, eine bessere mythologische und historische Zusammenschau zu basteln, als jedes andere Team im Land.«
Shingo blinzelte. »Die Wolken am Himmel und das Wasser im Krug?« Fragend sah er Meredith an.
Sie verbiss sich ein amüsiertes Grinsen. »Das hat etwas mit Zen zu tun«, sagte sie achselzuckend.
Was die Brauchbarkeit der Bibliothek betraf, hatte er Recht: Die Regale im Soame’s, die sich entlang der Haupthalle aufreihten, enthielten eine außerordentliche Anzahl jener Bücher, die sie benötigten – wirklich unbezahlbares Material, beinahe so gut, wie Sir John Soane es für das Originalmuseum vorgesehen hatte.
Doch das geschlossene Magazin war eine vollkommen andere Sache.
Tetsuo gab Millionen von Dollar dafür aus, den Petersdom nachzubauen, und Fuji verwandte eine ähnliche Summe auf den Kauf von Büchern. Dabei traf sie auch keine genauere Auswahl, jedenfalls nicht beim Einkauf – das kam erst hinterher. Sie kaufte ganze Bibliotheken auf, sogar ganze Auktionen, und transportierte sie nach Silvertown, um sie durchzusehen. Die äußerst begehrte Stelle eines privaten Bibliothekars (Hjerold hatte gut fünfzehn Bewerbungsanträge ausgefüllt, die alle höflich abgelehnt wurden) hatten sie mit einem großen, bärtigen ehemaligen Drucker besetzt, einem tugendhaften, zugeknöpften Mann namens Rod Bristol. Bristol war gründlich und tüchtig. Für das Soame’s wählte er nur die besten Bücher aus und stiftete den Rest auf Fujis Anweisungen hin der örtlichen Bibliothek und Schule. Diese Großzügigkeit hatte eine ungewöhnliche Nebenwirkung: Seit Jahren hatte jeder, der einen Bücherverkauf zugunsten der Bibliothek besuchte, gute Chancen, Wiegendrucke aus dem 15. Jahrhundert neben Büchern von James Herriot und Thrillern von Tom Clancy zu entdecken.
Jemand, der solche Bücher aussortieren ließ, musste eine umwerfende Sammlung besitzen – und von dieser Sammlung wurde nur ein Zehntel tatsächlich ausgestellt, darunter einige Blätter einer Gutenberg-Bibel, die zugänglich waren, weil die Kawaminamis sie doppelt hatten.
Natürlich war Meredith schon immer neugierig auf das geschlossene Magazin gewesen, hatte jedoch nie zu fragen gewagt. Hjerold dagegen war aus einem anderen Holz geschnitzt.
»Ihr braucht nicht zu fragen«, erklang eine geisterhafte Stimme von irgendwo über ihnen.
Das allgegenwärtige Gerüst klapperte, als Tetsuo zum Boden herabstieg. Anscheinend war er die ganze Zeit, während sie sich unterhalten hatten, über ihnen mit dem Malen beschäftigt gewesen und hatte, zu Merediths Verdruss, jedes ihrer Worte gehört. Er war einige Zentimeter kleiner als sein Sohn und besaß immer noch das gute Aussehen und die Vitalität der Jugend, gepaart mit der Neugier des Technikers, der er nach wie vor war.
»Hallo, Papa«, sagte Shingo.
»Earl«, sagte Tetsuo und kam näher. »Du arbeitest hart, wie ich sehe?«, sagte er und wies auf das Pergamentpapier.
»Aber klar.« Shingo machte es sich auf dem Stuhl neben Meredith bequem. »Diese Woche beschäftige ich mich mit Roark. Es macht Spaß, ist aber auch anstrengend.«
»Ted«, setzte Meredith an, halb entschuldigend.
»Psst«, machte er, um sie zum Schweigen zu bringen und ergriff ihre Hände. »Für die Tochter von Wasily Strugatski – alles!«
Shingo blickte ein wenig unsicher drein, aber Hjerold sprang sofort auf, salutierte und verbeugte sich.
»Ja, Sir, vielen Dank, Sir«, stotterte Hjerold.
»Mein Wirrer Freund«, sagte Tetsuo geduldig, »du bist ebenfalls willkommen – vorausgesetzt, du hörst mit dem Salutieren auf.«
»Ja, Sir«, sagte Hjerold,
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