Der unsichtbare Turm

Titel: Der unsichtbare Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nils Johnson-Shelton

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direkt in die Augen. Dann stieß er ein leises, unterlegenes Wimmern hervor, das zu ihnen hinunterwehte. Artie wusste, dass die Kreatur enttäuscht war.
    Ehe sie sich’s versahen, war das schöne Monster verschwunden. Die Luft beruhigte sich und der süße Duft des Sees und der Wälder kehrte zurück.
    Eine Weile saßen sie schweigend im Boot. Sie atmeten nur und versuchten, sich zusammenzureimen, was passiert war.
    Schließlich fragte Kay: »Wie konntest du dich so schnell bewegen, Artie?«
    «Was meinst du?«
    Däumling sagte: »Mein Junge, du warst ganz unscharf vor Schnelligkeit.«
    »Echt? Für mich lief alles in Zeitlupe ab. Ich glaube, das Mädchen im See hat das ausgelöst.«
    »Das Mädchen , sagst du?«, fragte Däumling.
    »Ja, das Mädchen. Sie war erst fünf oder sechs.«
    »Du meine Güte.« Däumling kicherte. »Sie war sehr viel älter, das kann ich dir versichern, Bursche.«
    Kay stieß einen Seufzer aus und ließ ihren Hals knacken. »Na ja, wie auch immer es passiert ist, es war ganz schön cool, Eure Hoheit.«
    Artie war froh, dass Kay sich wieder wie sie selbst anhörte, aber zugleich war er völlig erschöpft. Er ließ sich auf seine Sitzbank plumpsen. Schließlich hatte er eben einen Riesendrachen in die Flucht geschlagen, der zum Nisten wahrscheinlich die Fläche eines Footballfelds brauchte. Arties Augen brannten und sein Kopf tat weh. Doch er musste zugeben: »Ja, das war wirklich ganz schön cool, was, Sir Kay?«
    »Lasst uns zum Ufer zurückpaddeln«, sagte Däumling und drückte Vorpal, der noch immer in Angriffspose war, sanft auf den Boden des Kanus. »Ich denke, wir haben genug Aufregung gehabt für heute. Kay, hilf mir beim Paddeln. Artie darf sich ausruhen.«
    Kay spürte, dass ihr Bruder völlig erledigt war. »Gute Idee, Tommy. Ruh dich aus, Artie. Wir bringen dich nach Hause.«
    »Okay. Vielen Dank, Leute.«
    Sie paddelten los und die Sonne wärmte ihnen den Rücken. Nach einer Weile erwachten die Bäume um den See herum wieder zum Leben und die Wandertauben erhoben sich, befreit von ihren Jägern, wieder in den Himmel wie eine lebendige Konfetti-Wolke. Aus der Höhe beobachteten sie, wie das Boot zurück zum Ufer glitt.
    Der Schwarm war so groß, dass er aussah, als hätte er weder Anfang noch Ende.

Kapitel 13
    ÜBER DEN STURM, DER WIE EIN RIESE BLINDLINGS
DURCH DIE LANDSCHAFT STAPFTE
    Sie erreichten das Ufer, verstauten das Kanu und gingen den Weg zurück, den sie durch das Dickicht geschlagen hatten. Ihre Gedanken rasten und so sprachen sie nicht viel, bis sie die Straße erreicht hatten.
    Schließlich brach Kay das Schweigen und fragte: »Also, wie ist das jetzt genau, Tommy – die Tauben, der Riesenvogel, die Kastanie – all das ist auf unserer Seite mehr oder weniger ausgestorben?«
    Däumling sagte: »So ist es, Kay. Wie Merlin gesagt hat, haben einige Spezies hier Zuflucht gesucht, nachdem sie drüben ausgestorben waren.«
    »Heißt das, es gibt hier auch Dinosaurier und so?«, hakte Kay nach.
    »Nein, nein, meine Liebe. Es war ein großes Massensterben, das die Dinosaurier ausgerottet hat. Im Zuge dieses Massensterbens sind auch hier viele Arten verschwunden. Die Welten teilen sich die Erde, vergiss das nicht; es ist nur so, dass die Erde mehr Schichten hat und feingliedriger in ihrer Darstellung der Wirklichkeit ist, als die meisten von uns glauben.«
    »Was ist mit den Drachen?«, fragte Artie während sie weitergingen. »Haben die auch mal auf unserer Seite gelebt?«
    Däumling zog die Augenbrauen hoch und sagte: »Drachen sind etwas anderes. Die kommen nur hier vor. Hier sind sie sehr real. Drüben leben sie nur in eurer Vorstellung.«
    Artie runzelte die Stirn und sagte zu sich selbst: »Oh Mann, so ungefähr fühle ich mich gerade. Gleichzeitig real und alles andere als real …«
    Da erklang ein Donnergrollen hinter ihnen. Sie blieben einen Moment stehen und sahen eine dunkle, tief hängende Wolke, die sich in der Ferne zusammenballte. Am Ende der Straße konnten sie so gerade eben das Mondtor ausmachen.
    Als sie weiterliefen, schoss Kay plötzlich ein Gedanke durch den Kopf. Sie fragte: »Wenn also Tiere und Pflanzen die Welt drüben verlassen und hierherkommen, heißt das, dass manchmal auch Menschen, die drüben verloren gehen, hier landen?«
    Däumling sagte nur: »Das passiert nicht oft, ist aber schon vorgekommen, ja. Warum fragst du?«
    »Ach, aus keinem bestimmten Grund. Ich versuche nur, das alles hier zu verstehen.«
    Däumling warf Kay einen