Der unsichtbare Turm
»Nein. Ich will nicht, dass Erik Erikssen in meinem Zimmer rumschnüffelt. Auf keinen Fall.«
»Alles klar. Aber er hat auch gesagt, dass es hier einen verrückten Laden gibt, den wir ausprobieren sollten. Er heißt Der unsichtbare Turm und soll so ein Comic-Videospiel-Rollenspiel-Laden sein, der von einem echt schrägen alten Typen geführt wird. Die haben Spezial-Controller – Erik hat selbst zwei aus dem Laden. Ich hab sie gesehen, die sind echt gut.«
Kynder, der sich jetzt auf Arties Mahlzeit fixiert hatte, hielt die Cola hoch: »Art, du weißt doch, was ich von diesem Zuckerwasser halte! Und dass ich finde, dass du mehr davon trinkst, als du solltest, oder?«
» Dad !«, kreischte Kay. Den Gebrauch dieses Wortes hob sie sich nur für die größten Notlagen auf.
Kynder stellte die Cola ab. »Oh, stimmt ja. Art, da du ja schon ›gegessen‹ hast – warum findest du nicht heraus, wo dieser Unbesiegbare-Turm-Laden …«
»Der unsichtbare Turm, Kynder«, korrigierte Artie.
»Wie auch immer, finde heraus, wo er ist und nimm dir ein Taxi, um ihn dir anzusehen. Kay, wir beide essen jetzt erst mal was. Danach wird es dir schon besser gehen.«
Kay stimmte widerstrebend zu und schlurfte ins Badezimmer. Artie klappte den Laptop auf und sah im Internet nach, wo sich der Laden befand. »Er ist nur ein paar Straßen weiter, Kynder.«
»Schön. Hier hast du ein bisschen Geld. Gib es nur für die Taxifahrten und den Controller aus, sofern du einen guten findest.«
»Verstanden.«
»Bring den Kassenbon mit. Und versuch, in einer Stunde zurück zu sein.«
»In Ordnung.«
»Ich mein’s ernst.«
»Okay, okay.«
Als Artie am Bad vorbeikam, hörte er seine Schwester schniefen. Er beschloss, alles zu tun, um ihr zu helfen.
Der Portier winkte ein Taxi heran und Artie stieg ein. Der Fahrer war riesig und trug eine verspiegelte Pilotensonnenbrille. Er hätte bedrohlich ausgesehen, wenn er nicht ein Babyface gehabt und ununterbrochen gelächelt hätte.
Nach kurzer Fahrt hielten sie vor dem Laden. Als Artie bezahlte, zog der Fahrer die Sonnenbrille ein wenig herunter und zwinkerte ihm ausdrücklich – und leicht unheimlich – zu.
Artie sprang aus dem Taxi und ging schnell davon, doch als er den Unsichtbaren Turm zum ersten Mal sah, vergaß er den seltsamen Taxifahrer sofort.
Der Laden befand sich im Erdgeschoss eines niedrigen, hundertjährigen roten Backsteingebäudes mit grauen Granitsimsen. Direkt unterhalb des Dachs stand in Stein gehauen der Schriftzug »Drahtseilbahn Weinstraße«. Zum Bürgersteig hin waren hinter großen Schaufensterscheiben die Träume eines jeden Zwölfjährigen ausgestellt.
Da standen Actionfiguren, Masken, Bücher, Poster, Kostüme, Spiele, Schwerter, Äxte und Pfeile; Batman, Spiderman, Iron Man; Halo-Krieger, verwegen aussehende Spezialeinheitskämpfer, Frauen-Kommando-Truppen, mit denen man sich besser nicht anlegen sollte; es gab Frankenstein, Dracula und Die Mumie; Star Wars, Herr der Ringe, Avatar; alle möglichen tolkieninspirierten Zauberer, Elfen, Trolle, Orks, Feen und Kobolde; Roboter, Transformer, Druiden, Drachen, Schlangen, Hydras; schreiende Mangahelden auf Motorrädern und rehäugige Zeichentrickmädchen in Schuluniform und Minirock; handelsübliche Monster und göttliche Titanen jeglicher Art und in jedem Gemütszustand. Da waren die Logos von Marvel, Dark Horse, Wizards of the Coast, DC Comics, Dungeons & Dragons, Sony Xbox und Lucasfilm zu sehen.
Artie drückte die schwere Eichenholztür des Geschäfts auf. Eine an der Tür angebrachte Messingglocke läutete. Er hätte schwören können, dass im Klingeln des Glöckchens eine Stimme »Willkommen, werter Herr« gesagt hatte.
Aber Glocken konnten doch nicht sprechen, oder?
Er trat über die Schwelle. Artie konnte es sich nicht erklären, aber sobald er eingetreten war, fühlte er sich, nun ja, stärker . Es war, als hätte er auf einmal zehn Kilo mehr Muskeln. Seine Fingerspitzen kribbelten und sein gekrümmter Rücken – die übliche Fehlhaltung eines lang geratenen angehenden Teenagers, der nicht auffallen will – streckte sich. Als er seinen Kopf von einer Seite zur anderen drehte, knackte es und er holte tief Luft. Er fühlte sich fantastisch.
Das Innere des Ladens war spärlich beleuchtet. Durch all das Zeug, das in den Fenstern ausgestellt war, konnte man überhaupt nicht nach draußen sehen. Kein einziger Sonnenstrahl drang herein. Artie blinzelte, während seine Augen sich an das schummerige Licht
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