Der unsichtbare Turm
Kynder hatte was gegen Limonaden. Ständig schimpfte er, dass sie Artie »zu einem regelrechten Junkie machen« würden, obwohl das bisher nicht der Fall war und Artie sie schon seit drei Jahren trank (okay – er hatte seitdem auch schon sechs Löcher in den Zähnen gehabt). Dann gingen sie zu dem kleinen Gemüsefeld im Garten hinter dem Haus, das, abgesehen von seinen Kindern, Kynders ganzer Stolz war.
Kynder war ebenfalls groß, dünn und rothaarig. Aber seine Augen waren beide haselnussbraun. Er trug einen gut gepflegten Schnurrbart, der seine sehr gerade Nase wie ein umgedrehtes T aussehen ließ, und auf dieser Nase saß eine große, eckige Brille, die vielleicht – aber nur vielleicht – in den Achtzigern mal cool gewesen war. Dazu hatte er immer noch die lächerlich kurze Laufhose von seiner morgendlichen Joggingrunde an. Doch seine Sportschuhe hatte er gegen ein Paar grüne Gummistiefel getauscht, in denen es kochend heiß sein musste, denn es herrschten ungefähr dreiunddreißig Grad draußen.
Ja, Kynder war auch ein Colakopp. Ein bescheidener, pseudoreicher, halbpensionierter Computerfreak. Und seine Kinder fanden ihn großartig.
»Hey Leute, habt ihr geübt?« Erstaunlicherweise wurde bei den Kingfishers so über das Videospielen geredet.
»Und ob. Unser Held hier hat endlich Caladirth umgelegt.«
»Wirklich? Das ist ja sensationell, Art! Daran hast du gearbeitet, seit Qwon dich auf die Wange geküsst hat, oder?«
Das war das Ereignis, durch das der letzte Tag des vergangenen Schuljahrs bei den Kingfishers für immer in Erinnerung bleiben würde. Seitdem zogen Kay und Kynder Artie regelmäßig damit auf. Artie hatte keine Ahnung, woher Kynder wusste, dass Qwon – nicht die virtuelle Streitaxt, sondern die Schulkameradin, nach der sie benannt war – ihn geküsst hatte, aber er wusste es nun mal.
»Wie nett von dir, dass du das auch noch mal zur Sprache bringst«, spöttelte Kay.
»Ach, seid doch still, alle beide«, stöhnte Artie. Er hockte sich neben die Tomaten, begann Unkraut zu jäten und fragte sich, was wohl als Nächstes passieren würde in dem Spiel, das er so sehr liebte.
Kapitel 2
IN DEM ARTIE VON SEINEM ERGEBENEN
DIENER KONTAKTIERT WIRD
Artie, Kay und Kynder wohnten in einem gelben, schindelbedeckten Haus in der Schlossmannstraße in Shadyside, Pennsylvania. Kay und Artie nannten ihren Vater beim Vornamen, seit sie ungefähr acht Jahre alt waren. Artie hatte damals erfahren, dass er adoptiert war. Und obwohl Kynder der einzige Vater war, den er je gekannt hatte, nannte er ihn von diesem Moment an nicht mehr Pop, sondern Kynder. Innerhalb weniger Monate nannte auch Kay ihn so. Kynder mochte diese lustige Marotte und bestand daher nie darauf, Pop, Dad oder sonst wie genannt zu werden.
Kays Mutter hatte sie verlassen, als Kay drei und Artie zwei war. Artie wohnte bei Kynder und Kay, seit er genau ein Jahr und drei Tage alt war. Kynder sprach nur sehr selten von Kays Mutter und nie darüber, warum sie die Familie verlassen hatte. Artie kannte noch nicht einmal ihren Namen, und Kay hatte es nie für nötig befunden, ihm diesen zu verraten. Überhaupt war auch Kay nicht sehr auskunftsfreudig, wenn es um ihre Mutter ging. Aber haben nicht alle Kinder ihre Geheimnisse? Sogar eine Schwester wie Kay?
An diesem Abend loggte sich Artie also vor dem Essen in die Spielforen ein und startete einen neuen Thread mit dem Titel »Caladirth ohne Komplettlösung getötet«. Innerhalb weniger Minuten erschienen über ein Dutzend Einträge von Spielern, die Artie auf die Schulter klopften. Er las sie alle mit Stolz. Ihm kam der Gedanke, dass es sich ungefähr so anfühlen musste, Kay zu sein.
Die meisten Einträge stammten von registrierten Mitgliedern, doch einige waren anonym, und ein paar davon waren Artie übelgesinnt, was ziemlich blöd war. Einer nannte ihn einen Feigling, weil er in der Zauberkrieger-Klasse spielte. Der Typ hatte Zauberkrieger anscheinend auf dem Kieker. Artie hätte das nicht weniger jucken können. Zum Teufel mit den Trollen.
Artie war kurz davor, sich auszuloggen und in sein Zimmer zu gehen, als in der Anzeige eine neue Nachricht mit der Überschrift »Arts Easter Egg« erschien. Neugierig klickte er darauf und las: Art, du musst dein Easter Egg heute Abend finden. Suche an der Stelle, die am naheliegendsten ist. – T.D.
Jeder, der sich mit Videospielen einigermaßen auskennt, weiß, was ein Easter Egg ist: ein Geheimnis, meist ein scherzhaftes, das im Spiel
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