Der unsichtbare Turm
Ihr irgendetwas braucht, müsst Ihr es nur einem von ihnen sagen und sie werden mich holen.« Bevor sie irgendetwas erwidern konnten, war Lavery in der Richtung verschwunden, aus der sie gekommen waren.
Kay warf einen Seitenblick auf die Katzen. Artie und Bedevere schienen noch immer neben sich zu stehen, doch Däumling sah aus, als sei er wieder Herr seiner Sinne. Er nickte Kay zu, drückte die Türklinke herunter und schob die Tür auf.
Das Landkartenhaus schien aus einem einzigen Raum zu bestehen. Entlang der Wände standen dunkle Holzregale, die mit zusammengerollten Karten vollgestopft waren und in der Mitte des Raums war ein großer, hüfthoher Tisch. Eine Neonröhre beleuchtete ihn, die Ecken des Raums dagegen lagen in völliger Dunkelheit. Ausgebreitet auf dem Tisch lag eine riesige, vergilbte Landkarte.
Sie gingen zum Tisch und Däumling kletterte hinauf. Dann klatschte er laut vor Artie und Bedevere in die Hände und fragte laut und eindringlich: »Fühlt Ihr euch jetzt wieder besser, Burschen?«
Wie aufs Stichwort rieben sich Artie und Bedevere das Gesicht und stöhnten. Bedevere streckte sich und ließ seinen Rücken knacken. Artie sah von seinen Händen auf, direkt in die verschiedenfarbigen Augen seiner Schwester – es war, als hätte er sie lange nicht gesehen.
»Wie lange waren wir dadrin?«, fragte Artie und klang dabei wieder ganz wie er selbst.
»Haben wir wirklich Zeit damit verschwendet, Karten zu spielen?«, fügte Bedevere mit für ihn ungewöhnlich ängstlichem Ton hinzu.
»Ja, wir haben Zeit mit Karten spielen vergeudet«, versicherte ihm Däumling, »und ich habe keine Ahnung, wie lange wir dort waren. Bestenfalls hat es wirklich nur einen Tag gedauert. Im schlimmsten Fall … Den schlimmsten Fall will ich mir gar nicht erst ausmalen.«
»Ist einem von euch aufgefallen, wie ähnlich der bescheuerte Elf und ich uns sehen?«, fragte Kay. »Außerdem hat er mich mehrmals ›Schwester Kay‹ genannt. Das war wirklich unheimlich.«
»Jetzt, wo du es erwähnst«, gab Artie nachdenklich zu, »erinnere ich mich daran. Was geht hier vor? Warum sollte uns jemand aufhalten wollen?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Däumling. Er starrte auf die Karte unter seinen Füßen. »Wenn ich raten sollte, würde ich sagen, dass der Moorland-Hexe genug Zeit verschafft werden soll, um hierherzukommen. Vielleicht will sie dich leibhaftig sehen, Artie, bevor sie versucht, dein Vorhaben zu stoppen. Oder Numinae wollte uns aufhalten, um mehr Zeit zu haben, sich eine Meinung über deine Mission zu bilden. Ohne zu wissen, wer hinter Lavery steht, können wir es nicht mit Sicherheit sagen.«
Bedevere studierte die Karte und sagte: »Ich würde sagen, wir schnappen sie uns einfach und verschwinden im Laufschritt von hier.«
Gerade wollten sie ihm zustimmen, als plötzlich ein Geräusch aus einer der dunklen Ecken des Raums drang.
Eine verhüllte Gestalt trat aus der Dunkelheit hervor. »Nein!«, quietschte sie. »Nichts werdet ihr aus dieser Bibliothek mitnehmen. Rein gar nichts! Die Miezekätzchen! Die süßen kleinen Miezekätzchen!«
Die Gestalt war bucklig, etwa einen Meter fünfzig groß und wirkte unter ihrem sackartigen braunen Umhang sehr dünn. Von ihrer gruseligen Stimme mal abgesehen, wirkte sie ungefährlich.
Trotzdem zogen sie die Schwerter.
»Pah!«, stieß die Gestalt aus. »Ich bin alt! Legt Eure Waffen weg, legt sie weg, legt sie weg …«
»Zeig dich!«, forderte Artie.
»Ah, jetzt spricht Eure Abscheulichkeit, was?« Die Gestalt stützte die Hände in die Hüften, tanzte einen paar kleine höhnische Schritte und lachte. Dann sagte sie in komischem Singsang: »Stopp, junger Ritter in Schwarz! Leg die Pergamentrolle zurück! Nichts verschwindet von hier! Gar nichts!«
»Diese Karte schon, du Geistesgestörter!«, rief Bedevere entschieden und zeigte auf das Stück Pergament auf dem Tisch.
Die verhüllte Person streckte ihr verborgenes Ohr in seine Richtung. »Ah! Geistesgestörter, sagst du? Ha! … Er denkt, ich bin ein Mann!«
»Elf, Kobold, Troll, Hexer – ist mir egal!«, verkündete Bedevere unerschrocken. »Wir brauchen diese Karte und wir nehmen sie mit!«
Die Gestalt sah erst aus, als wollte sie Bedevere anschreien. Doch dann veränderte sich ihre Stimme dramatisch. Sie hörte auf zu tanzen, fing an, im Kreis zu gehen und sagte: »Nein! Nein! Nein! Nicht sicher! Nicht sicher für mich – und für euch auch nicht! Nein! Ein Schwindler! Ein heimtückischer alter
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