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Der unsichtbare Turm

Der unsichtbare Turm

Titel: Der unsichtbare Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nils Johnson-Shelton
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Schwindler!«
    Jegliche Bedrohlichkeit war aus ihrer Stimme verschwunden. Stattdessen klang sie jetzt wie die Stimme einer keifenden, verletzten Frau.
    Sie kam Artie bekannt vor.
    Er trat vor und fragte leise: »Was hast du gerade gesagt?«
    »Nicht sicher! Nicht sicher für mich – und für euch auch nicht!«
    Artie schob Excalibur in den Schaft zurück. Genau dieselben Worte hatte er schon einmal gehört.
    »Hast du ein Telefon?«, fragte er.
    »Ja, ja, natürlich!«, sagte sie verzweifelt und zeigte mit einem zitternden Finger in eine der dunklen Ecken. »Jede Nacht ruft sie mich an, jede Nacht ruft sie an und macht mir Angst und verrät mir etwas. Jede Nacht erzählt sie mir von dem Grauen, dass das Kind in unser Reich bringen wird. Jede Nacht, jede Nacht …«
    Artie fragte: »Wer ruft an? Kannst du unsere Welt damit anrufen?«
    »Ja! Ja!«
    »Hast du das getan?«
    » JA !«
    »Wer ruft dich an?«
    Die Fremde schüttelte ihre Hände und zog plötzlich ihre Kapuze herunter. Mit einer düsteren Stimme, die aus den Tiefen ihrer Kehle kam, schrie sie Artie ein einziges speichelgetränktes Wort ins Gesicht: »Morgaine!«
    Artie wich zurück und legte die Hand auf Excaliburs Griff, zog das Schwert aber nicht. Draußen donnerte es. Eine der Raubkatzen brüllte. Der Boden unter ihnen begann zu vibrieren, als enthielte er ein großes schlagendes Herz.
    »Ist sie hier?«, fragte Artie.
    »Hier? Hier? Du Dummkopf! Nein. Aber sie hat es mir gezeigt! Du hast keine Chance, du Witzfigur von einem König. Keine Chance! Sie weiß Bescheid!« Während sie das sagte, schnipste sie abfällig mit dem Finger gegen Arties Brust, wie um seine Bedeutungslosigkeit zu betonen.
    Artie trat ein paar Schritte zurück. Die verrückte Frau folgte ihm und ließ dabei sein Gesicht mit den Augen nicht los. Dann trat sie ins Licht. Und in diesem Moment sah er sie. Ihre Augen!
    Sie waren geweitet, wässrig und blutunterlaufen, wie bei den meisten zeternden Geisteskranken. Doch wie kaum jemand sonst, hatte sie verschiedenfarbige: Das eine war himmelblau, das andere kleegrün.
    Artie zog scharf die Luft ein.
    Kay machte zwei schlurfende Schritte nach vorne und ließ Cleomedes fallen. Artie fühlte ihr Herz rasen und wie sie versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. Kleinlaut stammelte sie: »M-m-mom?«
    Es bestand kein Zweifel. Das seidige Haar der Frau war größtenteils grau, doch hier und da noch durchzogen von roten Strähnen. Ihre Wangenknochen waren hoch, ihre Nase spitz, ihre Augenbrauen voll. Sie war alt – viel, viel älter als Kynder – doch es war offensichtlich, dass sie einmal so schön gewesen war, wie Kay es ganz sicher bald sein würde.
    Die alte Frau spuckte ihr ein animalisches Fauchen entgegen. Und dann, als würde sie sich plötzlich schämen, drehte sie sich um und verbarg ihr Gesicht.
    Kay trat neben Artie und griff Halt suchend nach seinem Arm. Sie sagte leise: »Cassie.«
    Und so fanden Artie und Kay die Frau wieder, die die Kingfishers vor so langer Zeit verlassen hatte.

Kapitel 22
    IN DEM DIE RITTER AUS DER
GROSSEN BIBLIOTHEK VON SYLVAN FLIEHEN
    »Cassie, Cassie, Cassie«, jammerte die alte Frau, als hätte sie diesen Namen seit Ewigkeiten nicht mehr gehört.
    Kay ließ Arties Arm los und ging wieder näher an die ihr fremdgewordene Mutter heran. »Du bist es also wirklich?«
    »Ja«, wimmerte Cassie, unfähig, ihrer Tochter in die Augen zu schauen.
    »Aber wie bist du hierhergekommen? Und warum bist du so alt?«
    Die Frau hob die Schultern und seufzte. »Ich … ich kann mich nicht an alles erinnern – es war wie damals, als er in dein Schlafzimmer kam …« Sie wurde immer leiser und verstummte dann. Mit »er« meinte sie ganz klar Artie. Und es war offensichtlich, dass sie ihn nicht mochte.
    Däumling sagte finster: »Ein böser Zauber hat sie altern lassen, Kay. Das ist ganz eindeutig.«
    »Ja, ja«, bestätigte Cassie. »So dunkel. So viele falsche Versprechen sind in dieser Dunkelheit verschwunden. Ein neues Leben, ein neues Kind, ein neuer Anfang …«
    »Ein neues Kind.« Kay erschauderte angesichts der Frage, die sie jetzt stellen musste. »Doch nicht etwa Lavery?«
    »Doch, Lavery«, sagte Cassie leise.
    »Aber wie kann das sein?«, fragte Kay verwundert. »Er ist mindestens fünf Jahre älter als ich.«
    »Waldelfen altern in der ersten Zeit sehr schnell und erst später sehr langsam, Kay«, erklärte Däumling.
    »Ja«, zischte Cassie. »Er ist dein Halbbruder. Und er ist mehr dein

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