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Der unsichtbare Zweite

Der unsichtbare Zweite

Titel: Der unsichtbare Zweite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlo Fruttero
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komme dann später nach, um ihn zu umarmen.«
    Marchese, nicht Graf. Slucca, nicht Slicco. Das hätte mir zu denken geben müssen. Ich aber dachte nichts, sondern sagte dem Fahrer, er solle mich zurückbringen zur Firstdomina. Ich sprang geradezu die Treppe hinauf, übermittelte Migliarini inmitten der dichtesten Creme die Nachricht. Migliarini legte mir beide Hände auf die Schultern, die Aufregung war auf dem Höhepunkt, strahlend bahnte sich die Dame des Hauses einen Weg auf uns zu. »Aber wie hast du das erfahren, Slucca?«
    »Äh, ich war doch da bei ... der anderen, und dort habe ich gleich am Eingang ...«
    Die Dame des Hauses knipste ihr Lächeln aus, ihre Züge drückten jetzt abgrundtiefe Verachtung aus. Sie sah Migliarini an, als habe sie Catilina vor sich.
    »Wer hat es dir gesagt?« drang Migliarini in mich. »Bist du wirklich sicher?«
    »Senator Portis, der gerade dort herauskam, hat es mir versichert. Er hat gesagt, es habe eine Wiederannäherung gegeb...«
    »Portis? Der alte Portis?«
    »Ja, er hat mir aufgetragen, hierher zum Grafen zu eilen, damit er schon mal den Champagner entkorke, denn mit großem Verantwortungsgefühl ...«
    »Hat er gesagt, du sollst es dem Grafen ausrichten?«
    »Ja, auch wenn der Graf...«
    »Aber um Gottes willen, Slucca, das ist doch Graf Sforza! Er hat von Graf Carlo Sforza gesprochen, dem Außenminister von vor einem halben Jahrhundert! Weißt du, wo der alte Portis lebt?«
    »Nein, aber ist er denn nicht unser historisches Gedächtnis?«
    »Eben, Slucca, eben! Er lebt mit de Gasperi, Adenauer, Togliatti, Nenni, de Gaulle, Stalin! Er lebt immer noch mitten in der Krise von damals, Slucca, er ist bei den Voraussetzungen von 1949 oder 1954 oder 1962 stehengeblieben. Von dem, was heute passiert, hat er nicht den geringsten Schimmer!«
    Dem nun folgenden dichten Schweigen, in dem sich halbe Jahrhunderte, ganze Jahrhunderte, Jahrtausende der Geschichte zusammenballten, machte das dreckige Grinsen Minima Malvolios, meiner Zeitgenossin, ein Ende. »Na, bravo, Slucca! Gratuliere!«
    Und dann fand ich mich auf der Treppe wieder, vor dieser Steintafel. Vasone hatte mich weggeschleppt.
    »Aber was sollte bloß diese Botschaft Anteger vitae scelerisque purus bedeuten?«
    »Ich kann kein Latein, ich war nicht auf dem Gymnasium, ich bin direkt vom Kinderhort ins Parlament gekommen«, sagte Vasone.
    Wir machten einen langen Fußmarsch heim nach Monteverde Nuovo, und kaum waren wir da, bekam Vasone einen Anruf vom Sprecher seines Chefs, Onorevole Cirelli. Die Voraussetzungen waren gegeben, endlich! Und sogar objektiv. Alle hatten sich auf ihr Verantwortungsgefühl besonnen, und alles war wieder in Ordnung.
    Ein paar Tage lang nannten mich einige aus unseren Kreis witzig »Graf Slucca«, aber sie hörten bald wieder damit auf, der Witz hatte ausgedient. In einer Eisdiele ganz in der Nähe von Montecitorio bin ich dann Senator Portis über den Weg gelaufen. Er ließ sich gerade eine Eistüte mit Pfefferminz-Vanille-Nutella machen und erkannte mich sofort wieder. »Wie geht es, Slecchi?«
    Ich habe ihn nach diesem lateinischen Satz gefragt, aber er wusste nicht mehr genau, wer ihn geprägt hat oder warum, vielleicht hatte Cäsar ihn Pompeius übermitteln lassen, oder Churchill Bismarck.
    »Was wollen Sie«, sagte er nach dem ersten genüsslichen Lecken, »mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut wie früher, lieber Slacco.«

HEIL SLUCCA!
    »DER KONSENS, SLUCCA«, sagte Onorevole Migliarini mit träumerischem Blick auf die lange Touristenschlange, die geduldig vor der Galleria Borghese anstand, »der Konsens ist in der Politik alles.«
    Wir saßen auf einer zufällig gewählten Parkbank, fern von eventuellen Wanzen oder anderen Geräten der häuslichen Überwachung, und Migliarini sprach rückhaltlos.
    »Nun bist du, Slucca«, seufzte er, »freilich nicht Paolina Bonaparte, das steht fest. Ich sage ja nicht, dass du dich - nackt oder bekleidet - auf einem Diwan ausstrecken solltest, denn so wie für die da drüben würden sie für dich sowieso nie Schlange stehen, dafür, nimm's mir nicht übel, fehlt dir einfach das Potential. Ich meine das nur so als Beispiel, verstehst du?«
    Mich begeisterte das als Beispiel nicht übermäßig. Seit meiner Gymnasialzeit habe ich immer gehört, Canovas Bildhauerkunst sei kalt, und abgesehen von meinem Potential glaube ich nicht, dass ich, mal angenommen, es gäbe eine solche Gelegenheit, ausgerechnet Paolina sein wollte. Schön, aber unbestreitbar kalt.

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