Der unsichtbare Zweite
Wenn schon - die Neoklassik soll mir das nicht verübeln -, dann doch lieber gleich die Antike, die Venus von Milo zum Beispiel, oder die Göttin Aphrodite. Aber jedenfalls war das ein rein hypothetisches Projektoutline ohne konkrete Aussichten, und so schwieg ich.
»Niemand verlangt von dir, Slucca«, hob Migliarini wieder an, »dass du eine Schar faszinierter und applaudierender Bewunderer anziehst. Aber dazwischen und der Kunst, sich die Empörung einer alles andere als wohlgesinnten Menge zuzuziehen, ist doch noch ein Unterschied, das musst sogar du zugeben.«
Immer wieder kam er auf die unglückselige Episode mit dieser Umgehungsstraße zurück, er konnte es einfach nicht auf sich beruhen lassen. Und was hätte denn ich sagen sollen, dem dabei der dunkelgraue Zweireiher mit fast unsichtbarem rotem Nadelstreifen drauf-gegangen war?
»Aber die Aussichten auf einen Massenkonsens waren von vornherein äußerst gering«, verteidigte ich mich noch einmal. »In anderen Worten: Ich war doch apriorisch schon aufgeschmissen. Und das habe ich dir auch gesagt.«
Migliarini bohrte den Absatz in den Kies. »Spiel mir jetzt nicht den billigen Unglückspropheten, Slucca, ich bitte dich. Ich kann die Typen nicht leiden, die einem immer mit diesem ich habe es dir gesagt kommen, vor allem, wenn sie nicht imstande waren, in den Lauf der Ereignisse einzugreifen und ihn zu ihren Gunsten zu verändern.«
»Und bitte wie denn, entschuldige mal?« protestierte ich. »Die waren drauf und dran, mich zu lynchen, und du kommst mir mit Paolina Bonaparte.«
Er hatte mich zu dieser risikoreichen Einweihung in eine Ortschaft der Drei Venetien geschickt, und schon bei dem Wort »Einweihung« hatte ich keinen Hehl aus meinen Zweifeln gemacht. »Man kann doch dabei nicht von Einweihung sprechen, diese Umgehungsstraße ist doch nie fertiggestellt worden, sie endet im freien Feld, der Bau stagniert, da gibt es kein Band zum Durchschneiden.«
»Aber du bringst eine in höchstem Maße positive Botschaft, Slucca, die Bevölkerung dort hat schon alles Vertrauen, alle Hoffnung verloren. Die Fertigstellung der Umgehungsstraße war erst in fünf Jahren vorgesehen, und das sind nicht wenige Jahre. Aber du kommst jetzt mit der guten Nachricht: Der Aufschub wird nicht fünf Jahre dauern, sondern nur achtzehn Monate. Eine verbindliche, formelle, feierliche Zusage, die eine Zeremonie auf inaugurativer Ebene verdient. Fahr ganz ruhig hin, Slucca, du wirst der lebendige Beweis dafür sein, dass Rom sie nicht vergessen hat.«
Als ich mit dem Vizebürgermeister und einem Teil des Gemeindeausschusses an der Stelle ankam, wo sich der Asphalt der halben Umgehungsstraße in den Stoppelfeldern verlor, war da bereits eine schweigende Menge in, so schien es mir, ehrerbietiger Haltung versammelt. Auf Menschenmengen, auf Massen verstehe ich mich allerdings nicht besonders gut, ich habe nie von einem Balkon oder einem Podium aus gesprochen, und meine Einweihungsreden sind, abgesehen davon, dass die Mikrophone, die man mir vor die Nase stellt, meistens nicht funktionieren, immer äußerst kurz und im Wortlaut sehr ähnlich. Das Publikum, an das ich mich wende, besteht aus sitzenden Menschen, die nicht einmal die Beine übereinanderschlagen: aus dem Pfarrer, manchmal auch dem Bischof, den Offizieren der Karabinieri, Lehrern, Gemeinderäten oder Beamten der Provinzverwaltung nebst Gattinnen, Schwestern, Schwägerinnen und Kindern. Garantierter Konsens, ein Sonntagsspaziergang.
In Abwesenheit des Bürgermeisters, der sich mit weiteren zweihundertfünfzig Bürgermeistern auf einer Tagung in Venedig befand, die von einer Betongenossenschaft unter dem Titel Beton: ein halbes Jahrhundert der Verleumdungen veranstaltet wurde, ergriff als erster der Vizebürgermeister das Wort. »Liebe Mitbürger ... (ein erster schüchterner Pfiff ertönte), wir sind hier vor dieser halben Infrastruktur versammelt ... (weitere vereinzelte Pfiffe), um mit der großzügigen Herzlichkeit, die eine Tradition unserer Lande ist .. .(drei oder vier nicht besonders gelungene furzähnliche Geräusche mit dem Mund), den glaubwürdigen Überbringer einer lange erwarteten Nachricht zu begrüßen: Onorevole Aldo Slucca hat uns persönlich beehrt, um ...«
Bis zu diesem Augenblick war die Störungsrate bescheiden, eine irrelevante peripherische und schlecht organisierte Minorität, die ihrem Temperament Luft machte, wie das bei jeder beliebigen öffentlichen Veranstaltung vorkommt. Junge Leute, dachte
Weitere Kostenlose Bücher