Der Untergang der islamischen Welt
nicht in einer Modernisierung des Denkens und der Demokratisierung des Landes, sondern in einer neuen Phase der Alleinherrschaft und der Despotie. Muhammad Ali Pascha nutzte das feudale System, verteilte Land auf seine Familie und treue Soldaten und ließ jeden hinrichten, der seiner Politik widersprach. Und so blieb er ein Vorbild für die orientalischen Herrscher der Neuzeit, die zwar Modernisierungsprozesse in Gang setzten, jedoch das alte Herrschaftsmuster beibehielten. Muhammad Ali Pascha entlieh die materiellen Instrumente der Moderne und ignorierte das Gedankengut dahinter, ein Phänomen, das sich durch die neue islamische Geschichte zieht und das der Politikwissenschaftler Bassam Tibi »halbe Moderne« nennt.
Trotz wiederholter Modernisierungsversuche gelang es der islamischen Welt nicht, Anschluss an Europa zu finden, da sie sich mit dem Geist der Moderne nicht versöhnen konnte oder nicht versöhnen wollte.
Hadatha,
der arabische Begriff für Moderne, der aus dem neunzehnten Jahrhundert stammt, impliziert den Beginn eines neuen Zeitalters. Er ist sprachlich verwandt mit dem Begriff
muhdatha,
etwas Neues, was im orthodoxen Islam sehr negativ konnotiert ist. Der Prophet Mohamed soll gesagt haben: »Jedes
muhdatha
ist eine Erfindung, und jede Erfindung führt zur Verwirrung, und jede Verwirrung landet in der Hölle.« Zwar handelt es sich hier um Innovation in der religiösen Praxis, aber auch der säkulare Begriff der Erneuerung wurde dadurch beschädigt.
Vergleicht man den arabischen mit dem japanischen Begriff für Modernisierung, kann man den Unterschied in der Geisteshaltung hinsichtlich der Erneuerung verstehen. Der japanische Begriff, der ebenfalls Ende des neunzehnten Jahrhunderts geprägt wurde, lautet
bunmei
kaika,
die Öffnung der Zivilisation. Diesen Prozess nannten die Japaner Asien verlassen, nach Europa gehen. Fukuzawa Yukichi, ein prominenter Politiktheoretiker der Meiji-Ära, schrieb im Jahre 1885 einen Essay mit dem Titel
datsu
a
ron,
also »Auf Wiedersehen, Asien«, wo er seine Landsleute auf die Moderne einschwor. »Der Wind der Verwestlichung weht stark und bringt für die Japaner die Möglichkeit mit sich, die Früchte der Zivilisation zu kosten, oder die Wahl, im eigenen Schicksal verhaftet zu bleiben.« Japan befand sich damals in einem ähnlichen Prozess wie Ägypten in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts, es baute eine starke Armee auf, entschied sich aber zusätzlich für die geistige Öffnung des Landes und ließ die industriellen Erneuerungen auf den altjapanischen Handwerktraditionen aufbauen. Die neue militärische Macht Japans ließ sich zumindest damals auf keine Konfrontation mit den europäischen Mächten ein und errichtete die Infrastruktur eines modernen Staates ohne schrille Töne.
Man kann jedoch nicht behaupten, dass sich Japan dem Geist der Moderne völlig geöffnet hätte. Noch heute hat das Land der aufgehenden Sonne deutlich wahrnehmbare Defizite im Demokratieverständnis und in der Gleichberechtigung von Mann und Frau, doch die Idee der Öffnung und die Integration von europäischer Technik und Wissenschaft wurden nie durch Feindseligkeit gegenüber dem Westen aufgehalten. Selbst nach den schrecklichen Erfahrungen mit Hiroshima und Nagasaki keimten im zerstörten Japan keine antiwestlichen Ressentiments auf.
Dagegen segelte die Moderne aus Sicht vieler Muslime auf Kriegsschiffen übers Mittelmeer und wurde immer wieder von einem Kolonialherrn oder von einem einheimischen Despoten diktiert. Sie wurde den Muslimen von keinem Fukuzawa Yukichi erklärt oder schmackhaft gemacht. Die japanische Kreativität, die die Moderne in die eigene Tradition münden ließ, fehlte in der islamischen Welt, denn der Begriff
hadatha
(Moderne) blieb ein Gegensatz zum Begriff
turath,
der geistiges Erbe oder Tradition bedeutet. Dazu wurde im Zuge der Nationsbildung ein neuer Begriff eingeführt, der die Richtung zeigte:
asala,
also Authentizität, Eigenheit oder Originalität. Und wann immer Muslime in der eigenen Traditionsgeschichte nach Stützpunkten für die neue Identität suchten, landeten sie beim goldenen Kalb, das sie anzubeten begannen: entweder der brutale Gottesstaat oder der vermeintlich säkulare Alleinherrscher, der im Stile eines altarabischen Stammesführers seinen Personenkult um sich bildete und mit eiserner Hand regierte.
Die Orthodoxie bietet die einzige Möglichkeit des Rückzugs und der Abkehr, hin zum Status quo oder zu einem realen oder
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