Der Untergang der islamischen Welt
Al-Azhar-Kommission gegen ihn eine Fatwa aussprach, die ihm Gotteslästerung vorwarf. Dabei hatte er nicht etwa die Existenz Gottes bezweifelt oder den Propheten als Kinderschänder bezeichnet, sondern er plädierte öffentlich für die Trennung von Religion und Staat. Sieben Jahre zuvor war der sudanesische Theologe Mahmoud Mohamed Taha in Khartum hingerichtet worden, weil er die Scharia als historisches Konstrukt bezeichnet hatte, das heute keine Geltung mehr habe. Taha war der einzige arabische Intellektuelle, der sich in der Blütezeit des Nationalismus in den sechziger Jahren für die Versöhnung mit Israel aussprach, damit die Araber die Energie und die Ressourcen, die sie für Rüstung vergeudeten, in den Aufbau ihrer Länder stecken könnten. Allein deshalb galt er damals als Ketzer.
Aber diese Geisteshaltung ist nicht neu im Islam. Sie ist nicht, wie viele vermuten, eine neue Erscheinung als Reaktion auf die Moderne. Schon im sogenannten goldenen Zeitalter des Islam, als arabische Wissenschaft und Philosophie florierten, gab es eine heftige Auseinandersetzung zwischen rationalem Denken und buchstabentreuer Lebensweise, die mit dem Sieg der Traditionalisten endete, für die Kontinuität wichtiger war als Erneuerung. Die goldene Zeit in Andalusien wird gern als Beispiel für muslimische Toleranz gegenüber Juden und Christen und für die fruchtbare wissenschaftliche Zusammenarbeit der drei Religionen angeführt. Dies hält der amerikanische Historiker Mark Cohen für einen Mythos, den jüdische Intellektuelle im Europa des neunzehnten Jahrhunderts erfunden haben als eine Art historischer Flucht aus der bitteren Realität des europäischen Antisemitismus. Jenseits der utopischen Vorstellung von der konfessionellen Toleranz ist die Geschichte Andalusiens auch im kollektiven arabischen Gedächtnis mit falschen Vorstellungen verbunden. Die Eroberung Andalusiens durch die Araber wird als rechtmäßig, die Reconquista durch die christlichen Könige Ferdinand und Isabella als Verbrechen angesehen. Vergessen sind die Spaltung der Muslime in Andalusien und die gegenseitigen Kämpfe. Vergessen auch die Tatsache, dass die Intoleranz in Andalusien schon zwei Jahrhunderte vor der Reconquista begann, mit der Einwanderung radikaler muslimischer Berber, die von Wissenschaft und Philosophie nichts hielten, die Werke des großen Philosophen Averroes verbrennen ließen und ihn nach Marrakesch ins Exil jagten.
Seitdem gab es in der islamischen Geschichte keinen Prozess mehr, den man »Reform« nennen könnte, sondern nur kurze gutgemeinte Erneuerungswellen, die es nicht vermochten, den Fels der Orthodoxie zu unterspülen. Oder wechseln wir das Bild: Die islamischen Reformbewegungen gleichen nur kleinen, vereinzelten Rinnsalen, die sich im Sande verliefen und es nie schafften, sich zu einem großen, mächtigen Strom zu vereinen, der vieles hätte mit sich reißen und einen unumkehrbaren Prozess namens »Aufklärung« in Gang setzen können.
Allein das Verständnis davon, was ein Prozess überhaupt ist, gibt es nicht. Das Wort »Prozess« kennt die arabische Sprache nicht einmal. Es wird fälschlicherweise mir
amaliyya
übersetzt, was so viel wie »Operation« bedeutet. Das impliziert, dass man darunter eine kurze, abgeschlossene Aktion versteht. Genauso wird das Wort »Nachhaltigkeit« mit
istimrariyya
übersetzt, also mit »Kontinuität«. Ein Beispiel, wie Prozesse im arabischen Denken geführt werden, ist die Geschichte des Abbas Ibn Firnas. Der Physiker aus Cordoba versuchte im neunten Jahrhundert zu fliegen. Lange beobachtete er die Vögel und baute mit großer Präzision zwei Flügel, die ihn tragen sollten. Es war ein schöner Tag, und der Wind war auf seiner Seite. Er hob vom Boden ab, und es schien, als könnte ihn nichts mehr stoppen. Doch nach vierhundert Metern stürzte er plötzlich ab und brach sich beide Beine. Er hat es nie wieder versucht, und keiner nach ihm wagte das Abenteuer. Die »faustische Seele« blieb am Boden.
Selbstverständlich spielten die europäischen Kolonialmächte eine negative Rolle in der modernen islamischen Geschichte und waren an einer Modernisierung der von ihnen besetzten islamischen Länder nicht wirklich interessiert. Durch ihr aggressives und arrogantes Auftreten taugten sie den Muslimen nicht als Vorbild. Aber egal was die Kolonialherren gemacht hätten, sie hätten nur alles falsch machen können: Als sie sich, wie die Engländer, kulturell in den Kolonien nicht einmischten,
Weitere Kostenlose Bücher