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Der Untergang der islamischen Welt

Der Untergang der islamischen Welt

Titel: Der Untergang der islamischen Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hamed Abdel-Samad
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seiner unüberlegten Tat den ägyptischen Interessen geschadet. Mehr als einhundertfünfzig Jahre später tauchte jener Student in den Geschichtsbüchern und Theaterstücken im Zuge der Bildung eines modernen Nationalstaates unter Präsident Nasser als Volksheld auf. Von den Errungenschaften, die durch die Franzosen ins Land kamen, und der Allianz zwischen Napoleon und den Al-Azhar-Gelehrten war keine Rede, sondern davon, wie brutal die Franzosen waren und wie Napoleon hoch zu Ross die Al-Azhar-Moschee betreten und das Gebäude entweiht hatte. Der »dumme Junge« ist auch durch die modernen Islamisten als Prototyp des Dschihad-Kämpfers gegen den Westen auferstanden. Da die Kultur seit langem keine neuen Helden hatte, sucht man welche in der Geschichte und lässt sie recyceln, um eine Kontinuität im nationalen und religiösen Widerstand zu konstruieren. Die Lücke zwischen Saladin, der die Kreuzritter im Mittelalter besiegte, und der Neuzeit wird mit imaginären Helden aufgefüllt.
    Nach drei Jahren war das französische Abenteuer in Ägypten beendet, und die Truppen kehrten nach Frankreich zurück. Geblieben war ein Hauch der französischen Revolution, aber eben nur ein Hauch. Kurz nach dem Abzug der Franzosen versammelten sich einige religiöse Anführer, Händler und Würdenträger und beschlossen, den mamelukischen Herrscher Khorschid Pascha abzuwählen und an seiner Stelle den albanischen Söldner Muhammad Ali Pascha einzusetzen, der als integrer, gläubiger Muslim galt. Das war der erste und letzte friedliche Machtwechsel in der arabischen Geschichte. Entweder vererbt der Herrscher die Macht an seine Familie oder er wird durch einen anderen Herrscher mit Gewalt abgelöst. Die Bezeichnung »ehemaliger arabischer Präsident« gibt es deshalb noch nicht. Interessant war allerdings, dass die Würdenträger des Landes keinen Ägypter fanden, der über sie herrschen konnte oder den sie über sich herrschen lassen wollten, und stattdessen einen osmanischen Soldaten aus Albanien bitten mussten, dies zu tun.
    Muhammad Ali Pascha war ein kluger Stratege. Mit Religion hatte er nicht viel am Hut, aber er hatte sich durch scheinbare Religiosität bei den Ägyptern beliebt gemacht, bis ihm die Macht angetragen wurde. Seine erste Amtshandlung war, alle religiösen Führer ins Wüstenexil zu schicken und alle Militärgeneräle, die die Macht mit ihm teilen wollten, durch ein berüchtigtes Massaker während eines Banketts, zu dem er sie eingeladen hatte, ermorden zu lassen. Nach dem Vorbild Frankreichs wollte der neue Monarch Ägypten nicht nur zu einem modernen Staat formen, sondern auch zur Großmacht aufbauen. In einem atemberaubenden Tempo ließ Muhammad Ali Pascha moderne Fabriken errichten, schickte junge Stipendiaten nach Europa, die er zu Trägern der Modernisierung auserkoren hatte, unter ihnen befand sich der junge Rifa’a al-Tahtawi (gestorben 1873 ), der später die erste Fremdsprachenschule der arabischen Welt in Kairo errichtete, deren Absolvent ich bin. Die meisten Übersetzungen Tahtawis waren allerdings nicht wissenschaftliche oder philosophische Werke, sondern militärische Dokumente, denn Muhammad Ali Pascha war mit Blick auf die europäischen Staaten zu der Erkenntnis gelangt, dass kein Land sich modernisieren könne, ohne eine starke Armee zu besitzen.
    Muhammad Ali Pascha entsandte Expeditionen auf die arabische Halbinsel und schlug den Aufstand der radikalen Wahhabiten nieder, nach Afrika, um die Nilquellen zu kontrollieren. Moderne Bewässerungssysteme, neue Administration und Steuermodelle beflügelten die ägyptische Wirtschaft. Er ließ eine gewaltige Flotte und eine moderne Armee aufbauen, wollte Ägypten vom Osmanischen Reich abtrennen und zeigte Ambitionen, das Mittelmeer zu beherrschen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt merkten die untereinander verfeindeten Engländer, Franzosen und Russen auf, verbündeten sich und vernichteten 1827 in der Schlacht von Navarino die ägyptische Flotte vor der griechischen Küste. Wie das Deutsche Kaiserreich sah sich auch Muhammad Ali Paschas Ägypten als verspätete Nation. Es wollte seinen Platz in der Welt einnehmen, als der Kuchen unter den großen Nationen bereits aufgeteilt war.
    Muhammad Ali Paschas Modernisierungsversuche trugen nur kurzfristig Früchte, denn sie erwuchsen nicht aus dem Bewusstsein des Volkes, sondern wurden von oben diktiert. Die Reformen hatten ein Tempo, dem die meisten Ägypter nicht folgen konnten. Außerdem mündeten diese Reformen

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