Der Untergang der islamischen Welt
fiktiven Status quo ante der Kultur. Sie ist eine Art Rückversicherung gegen jedes Abenteuer der Öffnung. Und weil sie immer im Hinterkopf bleibt, stört sie jeden Neuanfang und bringt Zweifel über die Rentabilität der Veränderung. Wer durch Kairo, Teheran oder Kabul vor vierzig Jahren spazierte, wird die drei Städte heute kaum noch wiedererkennen. Abgesehen davon, dass sich die Einwohnerzahlen dort mehr als verdoppelt haben, sieht man, dass viele Prozesse der Modernisierung wieder zurückgenommen wurden. Während damals kaum eine verschleierte Frau auf der Straße zu sehen war, sind heute praktisch alle »islamisch korrekt« unterwegs. Ich erinnere mich, dass meine Tante aus Kairo uns in unserem Dorf am Nil vor dreißig Jahren im Minirock besuchte und auf der Straße rauchte, was ich cool fand. Damals störte das kaum jemanden. Heute ist ihre Tochter voll verschleiert. Meine Tante, die mittlerweile auch uniformiert ist, blickt auf diese Zeit zurück und bittet Gott um Verzeihung für ihre große Sünde. Sollte eine Frau es heute wagen, ohne Kopftuch durch mein Dorf zu gehen, muss sie damit rechnen, bestenfalls angepöbelt zu werden. Gerade Frauen sorgen dafür, dass keine ihresgleichen aus der Reihe tanzt.
Aber auch ohne den Druck des Kollektivs ist die Rückkehr zum konservativen Islam der kürzeste Weg für Muslime, die in Schwierigkeiten geraten. In Paris traf ich 2006 Faten (das arabische Wort heißt Verführerin), eine junge tunesische Sängerin, die aus einer sehr säkularen Familie in Tunis stammt und eine westlich ausgerichtete Bildung in ihrem Heimatland genoss, bevor sie in die französische Hauptstadt kam. Das negative Bild des Islam in den westlichen Medien hat Faten dazu gebracht, sich zu verschleiern und zum ersten Mal in ihrem Leben in die Moschee zu gehen. Wenn sie in Tunis ist, muss sie den Schleier ablegen, sonst würde ihr Vater sich darüber aufregen, denn er hält ihn für ein Zeichen der Rückständigkeit. Eine weitere französische Muslimin nannte den Islam »mon raison d’être«, also ihren Daseinszweck.
Eine fast identische Geschichte wie die von Faten erfuhr ich von Aisun, einer türkischstämmigen Zahnärztin in Kopenhagen. Obwohl sie in Dänemark geboren und nicht religiös war und wie »jedes andere dänische Mädchen« lebte, fragte sie sich vor wenigen Jahren: »Wer bin ich?« Zunächst trug sie T-Shirts mit der türkischen Flagge, nun trägt sie den Schleier, und seitdem fühlt sie sich geborgen. Als Nächstes will sie Dänemark verlassen und im Multikulti-Paradies England leben.
Die Scheu oder die Angst vor der Moderne kann durch eine indische Erzählung verdeutlicht werden: Eine Ameise aus dem Zuckerberg trifft eine Ameise aus dem Salzberg in dem Tal zwischen beiden Bergen. Die eine Ameise erzählt der anderen von dem süßen Geschmack des Zuckers, jene aber kann sich diesen Geschmack nicht vorstellen. Diese verspricht, morgen ein Stück Zucker mitzubringen, damit jene den Geschmack kennenlerne. Bevor jene ihre Höhle am nächsten Tag verlässt, nimmt sie ein Stück Salz mit und versteckt es unter ihrer Zunge, damit sie etwas für das Mittagessen dabeihat, falls der Zucker ihr nicht schmeckte. Als sie das Stück Zucker entgegennimmt, steckt sie es in den Mund und bemerkt einen komischen Geschmack. »Das schmeckt scheußlich«, sagt sie. Die andere Ameise ist erstaunt, weil sie doch weiß, wie gut ihr Zucker schmeckt. Sie weiß instinktiv, dass etwas mit der Zunge der anderen nicht in Ordnung ist, und bittet sie, den Mund aufzumachen, dort entdeckt sie das Salzstück.
In der indischen Version der Erzählung kann die Zuckerameise ihre Kollegin davon überzeugen, das Salz auszuspucken, den Mund auszuspülen, um den Zucker zu genießen. Die Geschichte endet mit dem begeisterten Lächeln der Salzameise, die glücklich über die Entdeckung des neuen Geschmacks ist. Sollte es eine arabische Version dieser Geschichte geben, dann endete sie folgendermaßen: die Salzameise würde sich weigern, das Salz aus ihrem Mund zu entfernen, sonst würde sie ihre Ahnen verraten, die nichts außer Salz kannten. Und selbst wenn sie sich zum Zucker verführen ließe, würde sie bald ein schlechtes Gewissen bekommen, zum Salzberg reumütig zurückkehren und von nun an alles Süße verfluchen.
Ich hatte einen gläubigen muslimischen Freund, dem ich einmal den Geschmack des Biers beschreiben sollte. Ich empfahl ihm, ein alkoholfreies Bier zu bestellen, um den Geschmack kennenzulernen, doch er
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