Der Untergang der islamischen Welt
gesehen wird, beraubt die Gesellschaft ungeheurer Ressourcen, die sie in dieser schweren Zeit dringend braucht. Dass die Fenster des Hauses nicht als Öffnungen gesehen werden, durch die frischer Wind hineinkommen könnte, sondern als die Schwachstelle, durch die die eigenen Kinder fliehen und die Eindringlinge sich hineinschleichen könnten, hemmt jede Form von Fortschritt. So bleibt die Außenwelt eine Welt des Feindes, und jede Geste, die aus ihr kommt, wird als feindselig interpretiert. Hier darf ohne Wenn und Aber jenseits der philosophischen Formel behauptet werden, dass die europäische Zivilisation deutlich freier ist als die muslimische. Auch wenn das System in Europa die Individuen vereinnahmt, bietet es ihnen immerhin die Rahmenbedingungen der persönlichen Entwicklung und räumt ihnen die Möglichkeit ein, dieses System jederzeit verlassen zu können.
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Käfighaltung
oder: Eine Frau aus Ägypten
Ü ber die Schweiz liest man seit dem Minarettverbot wenig Positives in der arabischen Presse. Umso erstaunter las ich am 10 . März 2010 ausgerechnet in einer saudischen Tageszeitung namens »al-watan« einen Artikel des fortschrittlichen Autors Turki Al-Dekhil über Tierschutz im Alpenland. Darin berichtete er von einem Zürcher Rechtsanwalt namens Anton, der es zu seiner Aufgabe mache, Tiere vor Gericht zu vertreten. »Die Kernidee der Gerechtigkeit ist es, diejenigen, die sich nicht wehren können, zu verteidigen«, zitierte der saudische Kolumnist den Schweizer Anwalt. Der ganze Artikel war ein Plädoyer für die Einhaltung der Menschenrechte und eine Hommage an ein Land, das nach der Volksabstimmung gegen die Minarette für viele Muslime für alles, nur nicht für Menschenrechte steht.
Die zahlreichen Kommentare auf der Webseite der Zeitung zu diesem Artikel waren zum Teil sehr heiter. Bei einem Kommentar fing ich sogar laut zu lachen an, aber bald blieb mir das Lachen im Halse stecken. Der Kommentar stammte von einer Frau und lautete: »Ich wünschte, ich wäre eine Kuh in der Schweiz!«
Der Wunsch, in eine Kuh verwandelt zu werden, mag verständlich sein, wenn man die Lebenssituation der Frauen in Saudi-Arabien genauer betrachtet. Denn sie sind nicht nur in der Bildung benachteiligt und ihre Bewegungsfreiheit ist stark eingeschränkt, sondern sie sind auch allzu oft massiver Gewalt zu Hause ausgesetzt. Laut einer innersaudischen Studie sind dreiundneunzig Prozent aller Frauen im arabischen Königreich Opfer familiärer Gewalt. Es ist sicher kein Zufall, dass Saudi-Arabien im Bericht des World Economic Forum 2009 zur Lage der Frau weltweit auf Platz einhundertdreißig von einhundertvierunddreißig landete. Alle hinteren Plätze, mit einer einzigen Ausnahme, waren islamischen Staaten vorbehalten. Einzig Benin schlich sich dazwischen. In der Liste belegte Pakistan Platz einhundertzweiunddreißig, Ägypten knapp vor der Türkei Platz einhundertsechsundzwanzig. Die Türkei kam trotz fortschrittlicher Gesetze auf Rang einhundertneunundzwanzig. Sogar der Iran lag mit Platz einhundertachtundzwanzig weiter oben. Ganz unten wie erwartet war der Jemen. Drei islamische Staaten, in denen die Lage der Frauen durch die Einführung der Scharia besonders tragisch ist, wurden in diesem Bericht gar nicht berücksichtigt: Afghanistan, Sudan und Somalia. Das am weitesten oben plazierte islamische Land war Indonesien auf Rang dreiundneunzig. Der Bericht sieht eine halbe Milliarde muslimischer Frauen als Opfer von Gender-Diskriminierung, Unterdrückung und Gewalt. Das gleiche Bild zeichnen Berichte von Human Rights Watch, die Menschenrechtsverletzungen, Unterdrückung von Frauen und religiösen Minderheiten in großem Maße in den islamischen Staaten beklagen. Es drängt sich die Frage auf, wie eine Gesellschaft sich entwickeln kann, wenn sie die Hälfte ihrer Bürger daran hindert, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Von Steinigung und Burka will ich nicht reden, denn darüber berichten die westlichen Zeitungen quasi täglich. Ich will eine Geschichte aus meiner Umgebung in Ägypten erzählen, die nicht nur die Situation der Frauen in einem islamischen Land im Besonderen, sondern auch das Hierarchieverständnis sowie Demokratiedefizite im Allgemeinen verdeutlichen könnte.
Wafaa hat ihren sechzehnten Geburtstag noch nicht gefeiert, aber sie trägt schon ihr Kind auf den Schultern. Bei jedem Satz, den sie ausspricht, lächelt sie, dann blickt sie zu Boden. Auf sie wurden innerhalb weniger Jahre drei grausame
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