Der Untergang der islamischen Welt
Verbrechen verübt, aber sie lächelt immer noch. Auch ihre Eltern lächeln und können bis heute nicht nachvollziehen, was schlimm sein soll an dem, was sie diesem Mädchen angetan haben. In so einem System ist soziale und physische Gewalt zwar nicht gewollt, aber sie ist vorprogrammiert. Ich kenne Wafaa lange und gut, denn sie ist meine Nichte. Ich war bei ihrer Geburt dabei. Meine Schwester, damals selbst siebzehn, wollte sie Saada nennen, zu Deutsch Freude. Aber der Vater bestand darauf, sie wie seine Schwester Wafaa zu nennen. Das bedeutet Treue, ein Schicksalsname, der Wafaa später zum Verhängnis werden sollte. Sie war ein wachsames und kluges Kind, war Klassenbeste und hatte die besten Chancen auf eine gute Bildung, zumal ihr Vater ein Gymnasialschullehrer ist. Auch ihre Mutter schaffte es bis zur zehnten Klasse.
Vor einigen Jahren war ich in meinem Heimatland und besuchte meine Schwester und ihre Familie im Dorf. Wafaa lag im Bett und starrte auf die Wand. Ich fragte sie, was mit ihr los ist, aber das zehnjährige Mädchen antwortete nicht. Keiner wollte mir erzählen, was mit ihr passiert war. Später teilte mir mein Bruder mit, dass Wafaas Eltern sie vor wenigen Tagen hatten beschneiden lassen und dass sie dabei eine große Menge Blut verloren hatte. Seitdem aß und redete sie kaum mehr. Jetzt verstand ich den gebrochenen Blick des Kindes. Schon als Student in Kairo hatte ich versucht, diesen barbarischen Brauch in meinem Dorf zu stoppen, aber niemand hatte auf mich hören wollen. Die Kampagne, die ich damals startete, wurde mit Häme und Spott kommentiert. Kairo habe meinen Kopf verdorben, hieß es. Nun kam ich diesmal nicht aus Kairo, sondern aus Deutschland zurück; ein noch besserer Grund, nicht auf mich zu hören. Aber ich konnte nicht tatenlos zusehen. Zwei Jahre später besuchte ich das Dorf, organisierte eine Konferenz im Rathaus meiner Heimatgemeinde und lud sowohl prominente Gegner als auch beliebte Befürworter der Beschneidung von Frauen ein. Diesmal wollte ich eine Diskussion und keine Belehrung. Mein Vater ist ein angesehener Mann im Dorf, da er der Imam der größten Moschee ist. Ich konnte ihn davon überzeugen, sein Schweigen zu diesem Thema zu brechen und an der Konferenz teilzunehmen. Ein weiterer Scheich aus Al-Azhar, ein Frauenarzt und eine Frauenrechtlerin saßen neben mir und meinem Vater auf dem Podium. Mehrere hundert Zuhörer füllten die Halle. Viele Frauen trauten sich nicht, zu der Veranstaltung zu kommen, und blieben draußen, einige jedoch schlichen sich rein und saßen vorne in der Ecke. Auch Wafaa und ihre Mutter waren anwesend und saßen direkt vor dem Podium.
Mein Vater wollte kein religiöses Rechtsgutachten zu diesem Thema abgeben, sondern seine persönliche Meinung sagen. Er glaube, dass die Beschneidung ein Unrecht der Frau gegenüber ist, und gab zu, dass er in der Vergangenheit den Fehler gemacht habe, dieses Unrecht billigend in Kauf zu nehmen. Die Frauenrechtlerin war seiner Meinung. Der Arzt listete die negativen sozialen, psychischen und gesundheitlichen Folgen der Beschneidung auf. Der berühmte Scheich der Al-Azhar, Abdallah Samak, war der Einzige, der die Beschneidung als eine islamische Tugend bezeichnete, die der Prophet ausdrücklich begrüßte. Er hatte die Mehrheit der Dorfbewohner auf seiner Seite. Meine Rolle beschränkte sich zunächst darauf, die Diskussion zu moderieren, aber als ich die Worte des Scheichs und den ohrenbetäubenden Applaus des Publikums hörte, begann ich mich aufzuregen und dachte an Wafaa, die beinahe an den Folgen der Beschneidung ihr Leben verloren hätte. Ich stand auf und fragte in die Runde: »Wenn eine eurer Töchter bei der Beschneidung verbluten würde, würdet ihr zum Arzt oder zum Scheich gehen?«
Als Wafaa meine Frage hörte, brach sie in Tränen aus. Auch meine Schwester konnte ihre Tränen nicht halten. Nach der Konferenz versprach mir meine Familie, kein Mädchen mehr beschneiden zu lassen. Beim Rest des Dorfes war der Erfolg dieser Konferenz eher mäßig. Ein Jahr später startete ich eine Umfrage über die Beschneidung im Dorf. Das Ergebnis war ernüchternd. Die Mehrheit tut es nach wie vor, obwohl es mittlerweile gesetzlich verboten ist. Die Entscheidung für die Beschneidung treffen in den meisten Fällen die Frauen, nicht die Männer. Eine UNICEF -Studie von 2010 bestätigt, dass immer noch fünfundachtzig Prozent aller Mädchen in Ägypten beschnitten werden.
Auch im Gymnasium war Wafaa Klassenbeste, war
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