Der Untergang der islamischen Welt
empfahlen, auf sie zu schießen. Sogar in Kuwait wurden ägyptische Gastarbeiter verhaftet, die T-Shirts mit El-Baradeis Foto trugen. Siebzehn von ihnen wurden nach Ägypten ausgeliefert. Die arabischen Diktatoren, die sonst bei Treffen der Arabischen Liga nie auf einen gemeinsamen Nenner kommen und sich gegenseitig auf übelste Weise beschimpfen, sind sich in einem wesentlichen Punkt allerdings einig: in der Unterdrückung ihrer Untertanen.
Ein anderer verlorener Sohn kehrte ebenfalls nach Ägypten zurück und wollte etwas für seine Heimat tun. Nachdem er 1999 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet worden war, kam Professor Ahmed Zewail aus den USA , wo er fast seine gesamte wissenschaftliche Karriere verbracht hatte, nach Ägypten zurück und wollte eine Wissensrevolution entfesseln. Auch er wurde vom Präsidenten geehrt, und die Verantwortlichen ließen sich gern mit ihm fotografieren. Doch als er sein Vorhaben zur Eröffnung eines wissenschaftlichen Exzellenzzentrums in Ägypten offenlegte, ging man auf Distanz zu ihm. Denn Zewail wollte, dass sein Zentrum unabhängig vom Staat existiere, damit freie Forschung sich entfalten könne. Seit zehn Jahren kämpft der Wissenschaftler mit den bürokratischen Labyrinthen und den politischen Tricks, die ihm im Wege stehen. Sein Zentrum bleibt nur die ambitionierte Idee eines Visionärs, der an den Betonköpfen der Macht zu zerbrechen droht.
Nicht nur die Politik steht der Wissenschaft im Wege, sondern auch eine europäische mittelalterliche Mentalität, die sich breitmachte und den »westlichen« Wissenschaften sehr skeptisch gegenübersteht. Besonders von religiöser Seite wird diese Wissenschaft fälschlicherweise entweder als Eingriff in die Schöpfung verstanden oder als Quelle irreführender Erkenntnisse, die Gottes Einwirken auf die Natur leugnen und behaupten, Menschen würden von den Affen abstammen. Manche empfinden sogar Schadenfreude, wenn die Technik oder die Wissenschaft versagt, etwa wenn Europäer an AIDS sterben, wenn ein Genforscher an Krebs erkrankt oder wenn eine Weltraumfähre abstürzt, schreibt der ägyptische Arzt Khaled Montaser. Diese Vorkommnisse werden als die Strafe Gottes für Menschen verstanden, die sich als Schöpfer sehen und keine Demut vor Gott zeigen.
Die Muslime im Mittelalter übersetzten die Werke anderer Völker, importierten aus China die Kunst der Herstellung von Papier und aus Indien das Dezimalsystem der Zahlen. Der große Philosoph Ibn Rushd (Averroes) sprach bereits im dreizehnten Jahrhundert von der »doppelten Wahrheit«, die eine scharfe Trennung zwischen den rationalen Erkenntnissen der Wissenschaft und den metaphysischen Erkenntnissen des Glaubens ermöglichte. Die Wissenschaft kann die Offenbarung nicht bestätigen, und die Offenbarung spricht die Sprache der Wissenschaft nicht, deshalb müssen sie einander weder ausschließen noch bestätigen, schrieb der Philosoph von Córdoba. Heute übersetzen alle arabischen Staaten zusammen in einem Jahr weniger als das, was Griechenland oder Spanien alleine ins Griechische beziehungsweise Spanische übersetzen. Die Wissenschaft wird entweder vernachlässigt oder dazu benutzt, um zu beweisen, dass die Aussagen des Korans korrekt sind. Das Buch »Die Wissenschaftszeichen des Korans« ist seit Jahren ein Bestseller in allen arabischen Staaten. Darin versucht der Autor beispielsweise zu beweisen, dass die Stellungnahmen des Korans zur Entstehung des Universums und zu den Stufen des Lebens eines Embryos im Mutterleib den Erkenntnissen der modernen Wissenschaft entsprächen. Dieses Buch wird oft als Mittel der Missionierung von jungen Europäern eingesetzt, die kaum wissenschaftliche Kenntnisse besitzen und sich dadurch beeindrucken lassen.
In ihrem Buch »Die unaufhaltsame Revolution« stellen Youssef Courbage und Emmanuel Todd fest, dass die Geburtenrate in der islamischen Welt drastisch zurückgeht. Brachte eine muslimische Frau 1975 im Schnitt 6 , 8 Kinder zur Welt, so waren es 2005 nur 3 , 7 . In Ländern wie dem Iran und Tunesien soll die Geburtenrate sogar auf das Niveau von Frankreich abgesunken sein. Diese Entwicklung sei, so die Autoren, auf die Alphabetisierung, vor allem der Frauen, zurückzuführen, die wiederum als Ausdruck einer Störung der traditionellen Gleichgewichte und der Familienstrukturen zu deuten sei. Wo Frauen lesen und schreiben können, geht die Geburtenrate unabhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung zurück. Allerdings bringe der
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