Der Untergang der islamischen Welt
extremistischen Gruppen, die den Islam als eine Revolution sehen, aber nicht als eine Revolution gegen das alte Denken, sondern gegen die Ungläubigen.
Ich teile Youssef Courbages und Emmanuel Todds Einschätzung, dass die Religiosität in der islamischen Welt abnimmt und dass es mehr und mehr zur Abkapselung des Individuums vom Konformitätsdruck kommt. Doch, abgesehen davon, dass man die Entwicklung einer Kultur nicht alleine durch Statistiken nachvollziehen kann, reichen Bildung und Individualisierung alleine nicht aus, um eine Gesellschaft grundlegend zu verändern, wenn sie nicht in demokratische Strukturen münden. Das Zusammenbrechen alter Strukturen kann durchaus auch zur Freisetzung von kriminellen Energien und von Anarchismus führen. Eines spricht allerdings für Emmanuel Todd, einem der beiden Autoren des Buches. Er war es, der seinerzeit den Zusammenbruch der Sowjetunion in einer Zeit vorhersah, in der keiner es für möglich hielt. Ich würde mich sehr freuen, wenn auch seine Prophezeiung über die rasante Modernisierung des Islam in Erfüllung ginge. Mein Verstand sagt mir aber, dass es Wunschdenken ist.
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Zwischen Renaissance und
Radikalisierung
oder: Muslime in der Fremde
D er Untergang des Islam wird bereits indirekt von Mohamed selbst prophezeit. Mohamed sagt aber auch die Wiedergeburt des Islam in einer fremden Umgebung vorher: »Der Islam ist als Fremder geboren und wird als Fremder wiederkehren.« Diese Prophezeiung wird auf zweierlei Art und Weise interpretiert: Reformorientierte Muslime sehen in ihr die Hoffnung, dass die Reform und die Liberalisierung des Islam im Westen erfolgen wird. Einer der Vertreter dieser These ist der in London lebende Islamwissenschaftler und Philosoph Tariq Ramadan, der für »radikale Reformen« des Islam plädiert. Nur durch die Zulassung einer multiplen Identität, die es einem Gläubigen ermöglicht, Muslim und Europäer gleichzeitig zu sein, können Muslime, laut Ramadan, in Europa Fuß fassen. Seine radikalen Reformen scheinen aber nicht mehr als eine Beruhigungsspritze zu sein, um die entfachte Kontroverse über den Islam zum Erliegen zu bringen. Der Koran und der Prophet bleiben unantastbar. Die Verse des heiligen Buches könne man nicht tilgen, meint Ramadan. Auch Scharia als Konzept und Anleitung zur Lebensführung der Muslime wird von ihm nicht in Frage gestellt. Er will aber nicht zu den Gesetzen der Scharia zurückkehren, sondern zu deren Absichten,
maqasid,
die er hauptsächlich als Gerechtigkeit und Frieden identifiziert. Nicht nur Ramadans charismatische Qualität, sondern auch die Tatsache, dass er der Enkel von Hassan Al-Banna, dem Gründer der Muslimbruderschaft, ist, verschaffte ihm nicht nur eine große Anhängerschaft unter Muslimen in Europa, sondern machten ihn auch zum gefragtesten Islamexperten bei vielen Kulturveranstaltungen und sogar bei europäischen Politikern. Ich halte Ramadans Diskurs allerdings eher für einen Teil des Problems denn für einen Teil der Lösung. Denn er vermittelt zwar den Eindruck, dass etwas in Bewegung ist, doch handelt es sich dabei nur um die gleichen alten verbrauchten Reformrezepte, die zwar das Wort Veränderung benutzen, jedoch das etablierte orthodoxe Denken eher stärken denn schwächen. Verglichen werden mit der Ramadan-Bewegung kann die in Amerika ansässige türkische Gülen-Bewegung, die sich für eine islamische Bildung und eine Versöhnung zwischen Islam und moderner Wissenschaft starkmacht. Während die einen sie für eine fortschrittliche Bewegung halten, sehen andere sie als fundamentalistisch im modernen Gewand. Die Bewegung, die vom türkischen Prediger Fethullah Gülen gegründet wurde, soll bereits mehrere Millionen Anhänger haben in der Türkei, in Nordamerika, Europa und in den muslimischen Staaten der ehemaligen Ud SSR . Weltweit sollen über eintausend Schulen der Bewegung existieren. Die Islamkritikerin Necla Kelek wirft dem Begründer der Bewegung eine »dogmatische und reaktionäre Denkweise« vor und unterstellt ihm politische Ambitionen.
Als Reaktion auf die Institutionalisierung des Islam in Europa durch konservative Moscheevereine sind auch viele private Initiativen entstanden, die säkularen und liberalen Muslimen eine Stimme geben. Die Fraueninitiative säkularer Musliminnen in Frankfurt und das Forum für einen fortschrittlichen Islam in Zürich sind zwei Beispiele dafür.
Mehr Anhänger als Ramadan, Gülen und die säkularen Vereine scheinen allerdings die orthodoxen
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