Der Untergang der islamischen Welt
Geburtenrückgang in einer Kultur eine Identitätskrise oder eine Art kollektive Depression mit sich. Die Autoren stellen einen direkten Zusammenhang zwischen demographischer Entwicklung und dem Zusammenbruch der Religiosität her, und das nicht nur im Falle des Islam. So war der Glaubensverlust eine unmittelbare Folge des Geburtenrückgangs in Westeuropa, Russland und China. Im Falle des Islam sei der Rückgang der Religiosität nicht, wie es beim Katholizismus der Fall ist, die Voraussetzung für die demographische Modernisierung, sondern es verhalte sich vielmehr umgekehrt, denn der Islam sei prinzipiell nicht gegen Verhütung.
Den Vormarsch des Islamismus sehen die Autoren als eine nur »augenblickliche Bewegung« und nicht als das Ende der islamischen Geschichte. Sie deuten den Fundamentalismus als vorübergehende Notwehr eines in »Bedrängnis geratenen Glaubens, der seine Verfechter auf den Plan ruft«. Was die beiden Statistiker außer Acht lassen, ist, dass der Fundamentalismus kein modernes Phänomen, sondern eine immer wiederkehrende Strategie der Muslime ist. Allerdings stimmt ihre Einschätzung, dass das Problem des heutigen Islam als eine Krise des Übergangs zu verstehen ist. Denn auch Ende des neunzehnten Jahrhunderts zeigte die Modernisierung der europäischen Gesellschaften ihre Schattenseiten. Mit der Alphabetisierung der Massen und der Schärfung ihres Bewusstseins gehen stets soziale Turbulenzen und massive psychische Störungen einher. Die Autoren zitieren die Studie von Émile Durkheim aus dem Jahre 1897 , die einen direkten Zusammenhang zwischen der steigenden Selbstmordrate und der zunehmenden Alphabetisierung der französischen Bevölkerung damals herstellte. Auch im heutigen China und Indien kann der Zusammenhang zwischen Suizid und Wirtschaftswachstum hergestellt werden. Die Autoren machen den Fehler, diesen Suizid mit den Selbstmordanschlägen muslimischer Terroristen zu vergleichen, denn alle soziologischen und psychologischen Studien zu den Motiven der Täter schlossen mentale oder psychopathologische Störungen der Täter aus. Denn hier handeln die Täter aus einer Überzeugung heraus und nicht unbedingt, weil sie lebensmüde sind.
Und dennoch bleibt die Einschätzung nachvollziehbar, dass Alphabetisierung und Modernisierung auf eine Gesellschaft destabilisierend wirken und politische Umwälzungen mit sich bringen, wie die Revolutionen in England, Frankreich und Russland zeigen. Auch in Indonesien brachte die Bildung breiterer Bevölkerungsschichten erst heftige Gewaltausbrüche mit sich, bevor es zu einer Demokratisierung kam. Denn Söhne, die lesen und schreiben können, akzeptieren oft die Autorität ihrer Eltern nicht und wollen ihren eigenen Weg gehen. Für muslimische Frauen gilt das allerdings leider noch nicht. Außerdem kommt es nicht nur auf die Alphabetisierung an, sondern auch darauf, was die jungen Menschen lesen. Neben dem vorhin erwähnten Buch »Die Wissenschaftszeichen des Korans« steht in den meisten Buchhandlungen von Kairo bis Casablanca oft eine Fülle an religiösen Büchern, die in der Regel zehnmal billiger sind als ein Roman oder ein politisches Buch. Die Mehrheit dieser Bücher wird mit Petrodollars subventioniert und verbreitet deshalb eine radikal wahhabitische Ideologie über die bösen Ungläubigen und die Qualen der Hölle. Halbgebildete, sexuell frustrierte und wirtschaftlich unzufriedene junge Muslime verschlingen diese Bücher. Anders als Analphabeten haben sie auch Zugang zum Korantext, was früher nur Gelehrten vorbehalten war, aber sie verfügen nicht über das nötige analytische Denken, das sie gegen die Tyrannei der Dogmen und die Demagogie der radikalen Gruppen schützt. Gleichzeitig ist diese junge Generation den Verführungen der Moderne und des Konsums wie keine andere ausgeliefert. Abdelwahab Meddeb spricht von einer Amerikanisierung der Moderne, die es Menschen ermöglicht, an der Konsumgesellschaft teilzuhaben, ohne ihre Seele zu reformieren. Die Gleichzeitigkeit von Radikalisierung und Amerikanisierung verschärft die Schizophrenie und zerfrisst die arabische Welt von innen.
In der Tat laufen überall in der islamischen Welt Individualisierungsprozesse ab. Die Söhne befreien sich vom Mainstream
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Islam ihrer Eltern, der die Autorität verherrlicht. Aber welche Alternativen finden die jungen Männer auf dem Markt des Glaubens und der Ideologien? Da sie kaum zivilgesellschaftliche Strukturen vorfinden, landen sie oft bei
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