Der Untergang der islamischen Welt
hätten auch die Antisemiten vor der Judaisierung Europas gewarnt, genauso wie die Islamophoben heute vor der Islamisierung des Abendlandes warnten.
Auch ich vergleiche die Muslime mit den Juden in Europa, aber dafür gehe ich ins achtzehnte und neunzehnte Jahrhundert zurück, und mich interessieren dabei nicht Parallelen in Aspekten der Ausgrenzung und Diskriminierung, sondern ich widme mich der Frage, wie es den Juden damals gelingen konnte, die Isolation zu durchbrechen und sich zu verbürgerlichen. Natürlich war der Druck der Mehrheit auf die Juden groß, und die Politik stellte Bedingungen, wie etwa eine berufliche Anpassung und ein neues Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit. Aber auch Juden selbst ergriffen die Initiative durch Teilhabe an Bildung und Wohlstand. Sie änderten ihre Berufsstrukturen und wählten mehr und mehr bürgerliche Berufe wie Arzt und Anwalt. Die Voraussetzung dafür waren eine gute Bildung und die Beherrschung der deutschen Sprache. Es gab damals keine Sprachförderprogramme für Minderheiten und auch keinen Integrationsbeauftragten. Ein religiöser Gelehrter wie Moses Mendelssohn setzte sich bei seinen Glaubensgenossen damals nicht nur für Talmud-, sondern auch für Deutsch- und Philosophieunterricht ein. Aus diesem Geist ist die
Haskala,
die jüdische Reformation entstanden. Man mag behaupten, dies habe den Juden später nichts genutzt, da sie trotz ihrer Bemühungen Opfer des Rassenwahns geworden sind. Dies ist jedoch ein falscher Einwand, denn es gibt keinen Zusammenhang zwischen der Emanzipation der Juden und dem Holocaust. Außerdem kam die
Haskala
den europäischen Juden zugute, als sie in die USA oder nach Palästina auswanderten. Dort konnten sie an dieses Gedankengut anknüpfen und demokratische Wissensgesellschaften aufbauen. Die Haltung, die Moses Mendelssohn bei den Diaspora-Juden angestoßen hatte, ermöglichte ihnen, Juden zu Hause und Deutsche auf der Straße zu sein. Diese Haltung vermisse ich bei vielen Muslimen, die jede andere Identität gegenüber ihrem Glauben als unterlegen betrachten. Deshalb fällt es ihnen auch so schwer, ihre religiösen Symbole aus dem öffentlichen Raum zu verbannen.
Nach dem negativen Ergebnis der Volksabstimmung über Minarette in der Schweiz und dem vereitelten Attentat auf den Mohamed-Karikaturisten Kurt Westergaard in Dänemark hatte ich die Hoffnung, dass endlich eine unverkrampfte Streitkultur entstehen würde, in der über die Themen Islam und Migration eine tiefgründige Debatte geführt werden könnte. Meine Hoffnung wurde durch einige Medienbeiträge in der islamischen Welt beflügelt, die diesmal die Wutindustrie in der islamischen Welt nicht anzukurbeln versuchten, sondern Besinnung und Zurückhaltung anmahnten. Die ägyptische Wochenzeitung »El-Youm Al-Sabea« fragte sogar in einem kritischen Bericht nach den Sünden der Muslime, die diese ablehnende Haltung gegenüber dem Islam in Europa verursacht hätten. Zu dieser Zeit fing die Islamkritik anscheinend an, Früchte zu tragen, und dies ließ meine Hoffnungen auf einen neuen Denkprozess unter Muslimen über die eigenen Versäumnisse blühen.
Und in Europa? Zwar wurden einige äußerst seltene islamkritische Beiträge in den Mainstream-Medien veröffentlicht, doch bald hatte sich meine Befürchtung bestätigt: In Europa wird ein Maulkorb schneller gefertigt als jedes Gegenargument.
Allein am 14 . Januar 2010 veröffentlichten die »Süddeutsche Zeitung« und der Berliner »Tagesspiegel« zwei Beiträge, die von der gleichen Person hätten stammen können. In einem Artikel für die »Süddeutsche Zeitung« mit dem Titel »Unsere Hassprediger« verglich Thomas Steinfeld Islamkritiker wie Henryk M. Broder und Necla Kelek mit den von ihnen kritisierten islamischen Fundamentalisten. Der ganze Text scheint – zumindest im Tenor – nur eine Abschrift des Beitrags von Claudius Seidl in der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« vom 10 . Januar zu sein. Dort waren die Hassprediger sogar »heilige Krieger«. Im Berliner »Tagesspiegel« vom 14 . Januar 2010 wundert sich Andreas Pflitsch über die scharfe Islamkritik, die aus den muslimischen Reihen kommt, und nennt diese »den kalten Krieg der Aufgeklärten«. Die Beiträge einiger Islamkritiker wie des in den USA lebenden Islamwissenschaftlers Ibn Warraq, des Vorsitzenden des Zentralrats der Ex-Muslime Mina Ahadi und des Verfassers dieser Zeilen, Hamed Abdel-Samad, sieht Pflitsch als »plumpes Aufwärmen alter
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