Der Untergang der islamischen Welt
Kind sich aufhielt. Ein junger Mann sah den weinenden Jungen. Sein Ruf wurde von den Massen über eine Entfernung von sechshundert Metern getragen, bis die Nachricht die Mutter erreichte. Die Massen spalteten sich, um den Weg für den Mann mit dem Jungen zu öffnen. Bald lag das Kind in den Armen seiner Mutter, und nicht nur in ihren Augen waren Freudentränen zu sehen. Ein unglaublicher Jubel brach aus. Jeder, der dort stand, war zutiefst gerührt. Das ist Kairo. Das ist auch Ägypten.
Ende Januar 2010 wurde Ägypten Afrika-Meister in der Fußball-Afrikameisterschaft. Millionen von Ägyptern strömten auf die Straßen von Kairo und jubelten bis früh in den Morgen. Alle gesellschaftlichen Regeln schienen für eine Nacht aufgehoben. Frauen durften nicht nur alleine bis spät in der Nacht wegbleiben, sondern tanzten öffentlich und fröhlich auf offener Straße. Manche von ihnen nahmen sogar ihre Kopftücher ab und schwenkten sie in der Luft. Man sah in ihren Augen den Wunsch nach Freiheit und die Sehnsucht danach, Teil von etwas Schönem zu sein. Ich sah die glücklichen Gesichter der jungen Menschen und dachte, diejenigen, die die Pyramiden gebaut haben, müssen auch enthusiastische Ägypter gewesen sein, wie diese, die ihr Land lieben. Was ist denn schiefgelaufen? Ist es wirklich nur die Diktatur des Systems, die ihnen im Wege steht, oder liegt es womöglich an der dicken Lehmschicht, die ihre Wahrnehmung und ihren Verstand umhüllt? Sie sollten sich vielleicht nur Ludwig Börnes Satz zu Herzen nehmen: »Einen Wahn verlieren macht weiser als eine Wahrheit finden.«
Aufklärung, wie Kant sie versteht, ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit entsteht, wenn man seinen Verstand abschaltet und auf die Leitung anderer angewiesen ist. Aufklärung bedeutet aber nicht unbedingt, die Religion zu entsorgen. Die jüdische Emanzipation begann mit der Initiative eines gläubigen Philosophen namens Moses Mendelssohn, der Bildung großschrieb. Auch in Skandinavien richtete sich die Aufklärung nicht wie in Frankreich gegen die Kirche, sondern wurde von einem Pfarrer namens Nikolai Frederik Severin Grundtvig eingeleitet, der in Dänemark die erste Volkshochschule der Welt gründete. Der Ausgang von Grundtvigs Aufklärung war die dreifache Frage, was es bedeute, ein Mensch zu sein, und welche Rolle dieser Mensch in seiner Gesellschaft und in seiner Welt spielen solle. »Zuerst Mensch und dann Christ« war Grundtvigs Motto für die Aufklärung. Bildung für alle, die Organisation der Bauern in Verbänden und sein Engagement, das später in die Gründung politischer Parteien für die Arbeiter mündete. Dies waren die Meilensteine, die Grundtvig für die dänische Modernisierung und die Sozialdemokratie legte, worauf der Wohlfahrtsstaat in allen skandinavischen Staaten heute basiert ist.
Nicht nur Abweichler, die sich abkapseln und das System verlassen, braucht die islamische Welt, sondern auch solche, die, wie Grundtvig, in der Mitte des Systems bleiben und es, wie ein trojanisches Pferd, von innen unterwandern. Wir brauchen Imame, die Averroes, Kant und Spinoza gelesen haben, und Moscheen, in denen Frauen nicht nur ohne Abtrennung neben Männern beten, sondern auch predigen können. Wir brauchen mehr Mut und mehr klare Worte. Wenn es nach mir ginge, wollte ich den Wahlspruch der Aufklärung aus jedem Minarett in der islamischen Welt fünfmal am Tag hören: Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!
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Auf Wiedersehen, Orient
oder: Aufbruch oder
Zusammenbruch?
A ufklärung war noch nie umsonst zu haben. Eine Modernisierung nach dem Zauberspruch »Sesam, öffne dich!« wird es nicht geben. Es stimmt zwar, dass wir uns in einer Zeit des Umbruchs befinden, eines Umbruchs nicht nur in der islamischen Welt. Doch was den Islam betrifft, kommt nach meiner Einschätzung zunächst der Zusammenbruch. Das Erdöl geht zur Neige, die klimatischen Bedingungen in der Region verschärfen sich und revitalisieren alte Konflikte, die geistige Erstarrung nimmt zu und findet immer mehr Anhänger, die sich von der Welt isolieren. Die Radikalen werden immer radikaler und die Liberalen noch liberaler. Die Fronten sind verhärtet wie selten zuvor.
Der Weg der Modernisierung führt über den Umweg der totalen Islamisierung. Doch die halbwegs säkularen Machthaber in der islamischen Welt und ihre westlichen Verbündeten können sich diesen Umweg nicht leisten. Was in Algerien,
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