Der Untergang der Telestadt
des Unternehmens zu Bewußtsein. Was schon vermochte ich auszurichten? Ich konnte sehen, registrieren, das Gesehene, Registrierte aufschreiben. Und sicherlich würde es von Mal zu Mal geringfügig Neues geben. Aber wahre Zusammenhänge würden mir auf diese Art verborgen bleiben. Was denken die Menschen, was fühlen sie? Noch konnte ich mir das vorstellen, so sehr hatten sie sich in diesem Zeitraum von dem, was ich kannte, nicht entfernt. Aber in zwei Jahren, in fünf, in einem Jahrzehnt…? Es würde so bleiben, außer ich mischte mich unter sie…
Ich sann, wie ich mein Aussehen weiter verändern könnte, daß die Gefahr des Erkennens minimal sein würde. Und was geschähe schon, wenn man mich entdeckte?
Mir kamen die gerade gesehenen Bilder in den Sinn, dieses Von-derHand-in-den-Mund-Leben, diese Beschäftigung mit zweifelhaftem Ergebnis, das Fußfassenwollen um jeden Preis.
Ich hatte nicht eine einzige schwangere Frau gesehen. Die Inkubatoren standen angealgt im Schiff…
Ganz gewiß, ich erinnere mich Gus’ Bemerkungen, würden die notwendigen sterilen Bedingungen nur äußerst schwierig herzustellen sein, wollte man diese Apparaturen zur Reproduktion der Menschheit auf Neuerde in Gang setzen – und wer würde sich als Spender hergeben…? Aber ich schweife erneut ab. Fest steht, ich bin enttäuscht, und mir ist klar, behalte ich die eingeschlagene Methode bei, ich brauchte vor einem halben Jahr nicht wieder nach Seestadt aufzubrechen.
Einen Monat lang habe ich keine Notiz zu Papier gebracht. Was auch sollte ich schreiben? Ich bin in eine regelrechte Lethargie verfallen, eine permanente Lustlosigkeit, für größere Unternehmungen fehlte mir einfach der Elan.
Meine Zeit verbrachte ich im wesentlichen faul, aber ich las viel, und nicht nur Schriften zu meiner Qualifizierung. Ich ließ mich hinwegtragen in alle Kontinente, Gegenden der Erde. Und je besser es dem Dichter gelang, in seine Sätze Leben zu hauchen, desto mehr schwelgte ich in meinen Wachträumen in diesen Gefilden. Manchmal hielt mich das alles so gefangen, daß mir über Stunden und Tage die Wirklichkeit ins Virtuelle entrückte.
Heute, am frühen Nachmittag, holte mich ein merkwürdiges Ereignis in meinen Alltag zurück:
Ich lag und ließ über einen Tonspeicher Stifters romantische Erzählungen aus »Bergkristall«, herrlich gesprochen, durch meine Kemenate klingen, und es war mir, als hörte ich die Bäume rauschen und den See leise plätschern…
Nur langsam und unwillig nahm ich das Fremdgeräusch auf, ein dumpfes, unregelmäßiges Pochen.
Zunächst störte es mich nur. Ich blickte über die Wiedergabeapparatur,
ob dort etwas diesen Effekt erzeugte. Aber nun gab es kein Geräusch
mehr.
Ich vertiefte mich erneut in den Text.
Da war es wieder.
Jetzt wurde ich aufmerksam. Ärgerlich, auch schon mißtrauisch, schal
tete ich den Geber ab.
Nichts.
Als ich die Hand zum Wiedereinschalten ausstreckte, hörte ich es wieder, dumpf, deutlich, weit aus dem Inneren des Schiffes.
Waren Seestädter hier, hatte ich die Annäherung des Transporters überhört? – Nun, ich vertiefte mich zwar in die Lesung, aber… Meine Einbauten störten die Hermetik des Raumes erheblich, und deshalb drangen bislang auch feinere Geräusche zu mir herein.
Ich wurde im höchsten Grade unruhig, zumal der Lärm jetzt anschwoll, als sei der Verursacher wütend über die Widerstandsfähigkeit des Materials.
Bei der Installation meines Kamins hatte ich, mehr aus Unachtsamkeit, ein Stück der Kuppelschließkante abgesprengt. So war ein Loch entstanden, durch welches ich mich mit einiger Mühe zwängen konnte. Das tat ich. Ich kroch also gleichsam auf das Dach der Telesalt.
Ich hatte einen ziemlich weiten Weg zurückzulegen bis zur Brüstung des rechten Trums, von der aus ich zum offenstehenden Haupteingang hinabsehen konnte.
Die Außenhaut der Telesalt – ich hatte sie lange nicht betreten – trug eine dicke, fest zusammenhängende Moos- und Grasschicht. An manchen Stellen wucherte niedriges Gebüsch.
Ich mühte mich, leise zu sein. Aber dieser Bewuchs schluckte ohnehin jegliches Schrittgeräusch, und er machte es mir leicht, die Höhenunterschiede, ohne ins Rutschen zu geraten, zu überwinden.
Über die vordere Querstrebe erreichte ich das rechte Trum, mußte mehrere Dutzend Meter in Richtung Heck, und dann beugte ich mich vorsichtig über die niedrige Brüstung.
Ich blickte auf die zur Rampe ausgelegte Torklappe, aber sah kein Fahrzeug. Ich lauschte intensiv.
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