Der Untergang des Abendlandes
sich aufgenommen hat, wird es verstehen, wie verhängnisvoll das in seiner starren Form erst ganz späten Kulturzuständen eigne und dann um so tyrannischer auf das Weltbild wirkende Kausalitätsprinzip für das Erleben echter Geschichte werden mußte. Kant hatte sehr vorsichtig die Kausalität als notwendige Form der Erkenntnis festgestellt, und es kann nicht oft genug betont werden, daß damit ausschließlich die
verstandesmäßige
Betrachtung der menschlichen Umwelt gemeint war. Das Wort Notwendigkeit hörte man gern, aber man überhörte die Einschränkung des Prinzips auf ein einzelnes Erkenntnisgebiet, die gerade das Schauen und Erfühlen lebendiger Geschichte ausschloß. Menschenkenntnis und Naturerkenntnis sind dem Wesen nach ganz unvergleichbar. Aber das ganze 19. Jahrhundert war bemüht, die Grenze von Natur und Geschichte zugunsten der ersten zu verwischen. Je historischer man denken wollte, desto mehr vergaß man, wie hier
nicht
gedacht werden durfte. Indem man das starre Schema einer räumlichen und zeitfeindlichen Beziehung, Ursache und Wirkung, gewaltsam auf Lebendiges anwandte, trug man in das sinnliche Oberflächenbild des Geschehens die konstruktiven Linien des physikalischen Naturbildes ein, und niemand fühlte – inmitten später, städtischer, an kausalen Denkzwang gewöhnter Geister – die tiefe Absurdität einer Wissenschaft, welche ein organisches Werden durch methodisches Mißverstehen als den Mechanismus eines Gewordnen begreifen wollte. Aber der Tag ist nicht Ursache der Nacht, die Jugend nicht die des Alters, die Blüte nicht die der Frucht. Alles was wir geistig erfassen, hat eine
Ursache
; alles was wir als organisch mit innerer Gewißheit erleben, hat eine
Vergangenheit
. Jene kennzeichnet den »Fall«, der überall möglich ist und dessen innere Form feststeht, gleichviel wann, wie oft und ob er überhaupt eintritt; diese kennzeichnet das
Ereignis
, das einmal war und nie wiederkehrt. Und je nachdem wir etwas in unserer Umwelt kritisch bewußt oder physiognomisch und unwillkürlich erfassen, ziehen wir den Schluß aus technischer oder aus Lebenserfahrung, auf eine zeitlose Ursache im Raume also oder auf eine Richtung, die vom Gestern zum Heute und Morgen führt.
Aber der Geist unsrer großen Städte
will
so nicht schließen. Umgeben von einer Maschinentechnik, die er selbst geschaffen hat, indem er der Natur ihr gefährlichstes Geheimnis, das Gesetz, ablauschte, will er auch die Geschichte technisch erobern, theoretisch und praktisch.
Zweckmäßigkeit
war das große Wort, mit dem er sie sich ähnlich machte. In der materialistischen Geschichtsauffassung herrschen Gesetze kausaler Natur, und daraus folgte, daß man Nützlichkeitsideale wie Aufklärung, Humanität und Weltfrieden als Zwecke der Weltgeschichte ansetzen durfte, um sie durch den »Fortschrittsprozeß« zu erreichen. Das Gefühl vom Schicksal aber war erstorben in diesen greisenhaften Entwürfen, zugleich mit dem Jugend- und Wagemut, der zukunftsschwanger und selbstvergessen einer dunklen Entscheidung entgegendrängt.
Denn nur die Jugend hat Zukunft und ist Zukunft. Dieser rätselvolle Wortklang aber ist gleichbedeutend mit Richtung der Zeit und Schicksal.
Das Schicksal ist immer jung
. Wer an seine Stelle eine Kette von Ursachen und Wirkungen setzt, der sieht auch in dem noch nicht Verwirklichten etwas gleichsam Altes und Vergangenes. Die
Richtung
fehlt. Wer aber in strömendem Überschwang einem Etwas entgegenlebt, der braucht nicht von Zweck und Nutzen zu wissen. Er fühlt sich selbst als Sinn dessen, was geschehen wird. Das war der Glaube an den Stern, der Cäsar und Napoleon nicht verließ und ebensowenig die großen Täter anderer Art, und das liegt zutiefst trotz aller Schwermut junger Jahre in jeder Kindheit, in allen jungen Geschlechtern, Völkern und Kulturen und über die gesamte Geschichte hin in allen Handelnden und Schauenden, die jung sind trotz ihrer weißen Haare und jünger als aller noch so frühe Hang zur – zeitlosen – Zweckmäßigkeit. Die gefühlte Bedeutung der jeweils augenblicklichen Umwelt erschließt sich denn auch in den ersten Tagen der Kindheit, für die nur Personen und Dinge der nächsten Umgebung wesenhaft sind, und erweitert sich in schweigender und unbewußter Erfahrung bis zu dem umfassenden Bilde, das der allgemeine Ausdruck der ganzen Kultur auf dieser Stufe ist und dessen Dolmetscher nur die großen Lebenskenner und Geschichtsforscher sind.
Hier unterscheidet sich
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