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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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der
unmittelbare Eindruck
des Gegenwärtigen vom
Bilde
des Vergangenen, das nur im Geiste vergegenwärtigt wird, also die Welt als Geschehen von der Welt als Geschichte. Auf jene richtet sich der Kennerblick des tätigen Menschen, des Staatsmannes und Feldherrn, auf diese der schauende des Historikers und Dichters. In jene greift man praktisch ein, leidend oder handelnd; diese ist der Chronologie als dem großen Symbol des unwiderruflich Vergangenen verfallen. [Die sich eben deshalb, weil der Zeit entrückt, mathematischer Zeichen bedienen kann. Diese starren Zahlen
bedeuten
für unser Auge das Schicksal von ehemals. Aber ihr Sinn ist ein anderer als der mathematische – Vergangenheit ist keine Ursache, ein Verhängnis keine Formel –, und wer sie mathematisch behandelt wie der historische Materialist, der hat aufgehört, Vergangenes, das einmal und
nur
einmal gelebt hat, als solches wirklich zu sehen.] Wir blicken rückwärts und leben vorwärts, dem Unvorhergesehenen entgegen, aber in das Bild des einmaligen Geschehens dringen nun, von der
technischen
Erfahrung schon der Kinderzeit her, die Züge des Vorherzusehenden ein, das Bild einer gesetzmäßigen Natur, die nicht dem physiognomischen Takt, sondern der Berechnung unterliegt. Wir erfassen ein Stück Wild als beseeltes Wesen und gleich darauf als Nahrungsmittel; wir sehen in einem Blitz eine Gefahr oder eine elektrische Entladung. Und dieses zweite, spätere, versteinernde Bild der Welt überwältigt in den großen Städten mehr und mehr das erste: das Bild der Vergangenheit wird mechanisiert, materialisiert, und aus ihm für Gegenwart und Zukunft eine Summe kausaler Regeln gezogen. Man glaubt an geschichtliche Gesetze und eine verstandesmäßige Erfahrung von ihnen.
    Aber Wissenschaft ist immer Naturwissenschaft. Kausales Wissen, technische Erfahrung gibt es nur von Gewordenem, Ausgedehntem, Erkanntem. Wie Leben zur Geschichte, so gehört Wissen zur Natur – zu der als Element begriffenen, im Raume betrachteten, nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung gestalteten Sinnenwelt. Gibt es also überhaupt eine Wissenschaft der Geschichte? Erinnern wir uns, wie in jedem persönlichen Weltbilde, das dem idealen Bild nur mehr oder weniger nahekommt, etwas von beidem erscheint, keine »Natur« ohne lebendige, keine »Geschichte« ohne kausale
Einklänge
ist. Denn innerhalb der Natur haben zwar gleichartige Versuche das gleiche gesetzmäßige Ergebnis, aber jeder einzelne ist ein geschichtliches Ereignis, das ein Datum besitzt und nie wiederkehrt. Und innerhalb der Geschichte bilden die Daten des Vergangenen – chronologische, statistische, Namen, Gestalten [ Nicht nur Friedensschlüsse und Todestage, sondern auch der Renaissancestil, die Polis, die mexikanische Kultur sind Daten, Tatsachen, die dagewesen sind, auch wenn wir keine Vorstellung von ihnen besitzen.] – ein starres Gewebe. Tatsachen
»stehen fest«
, auch wenn wir sie nicht kennen. Alles andre ist Bild,
theoria
, dort wie hier, aber Geschichte ist das »Im-Bildesein« selbst, dem das Tatsachenmaterial nur dient; in der Natur dient die Theorie der Gewinnung dieses Materials als dem eigentlichen Zweck.
    Es gibt also keine Wissenschaft der Geschichte, aber eine
Vor
wissenschaft
für
sie, welche das Dagewesene ermittelt. Für den geschichtlichen Blick selbst sind die Daten stets Symbole. Die Naturforschung aber ist
nur
Wissenschaft. Sie will, weil technischen Ursprungs und Ziels,
nur
Daten finden, Gesetze kausaler Art, und sobald sie den Blick auf etwas anderes richtet, ist sie schon
Meta
physik geworden, etwas jenseits der Natur. Aber deshalb sind geschichtliche und naturwissenschaftliche Daten zweierlei. Diese kehren immer wieder, jene nie. Diese sind Wahrheiten, jene Tatsachen. Mögen also »Zufälle« und »Ursachen« im Alltagsbilde noch so verwandt erscheinen, in der Tiefe gehören sie verschiedenen Welten an. Sicherlich ist das Geschichtsbild eines Menschen – und damit der Mensch selbst – um so flacher, je entschiedener der handgreifliche Zufall in ihm regiert, und sicherlich ist mithin eine Geschichtsschreibung um so leerer, je mehr sie ihr Objekt durch Feststellung rein tatsächlicher Beziehungen erschöpft. Je tiefer jemand Geschichte erlebt, desto seltener wird er »kausale« Eindrücke haben und desto gewisser wird er sie als gänzlich bedeutungslos empfinden. Man prüfe Goethes naturwissenschaftliche Schriften, und man wird erstaunt sein, die Darstellung einer lebendigen Natur ohne Formeln,

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