Der Untergang des Abendlandes
ohne Gesetze, fast ohne eine Spur von Kausalem zu finden. Zeit ist für ihn keine Distanz, sondern ein Gefühl. Der bloße Gelehrte, der lediglich kritisch zerlegt und ordnet, nicht schaut und fühlt, besitzt kaum die Gabe, hier das Letzte und Tiefste zu erleben. Die Geschichte fordert sie aber; und so besteht das Paradoxon zu Recht, daß ein Geschichtsforscher um so bedeutender ist, je weniger er der eigentlichen Wissenschaft angehört.
Das Schema auf der folgenden Seite möge das Gesagte zusammenfassen:
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Darf man irgendeine Gruppe von Tatsachen sozialer, religiöser, physiologischer, ethischer Natur als »Ursache« einer andern setzen? Die rationalistische Geschichtsschreibung und mehr noch die heutige Soziologie kennen im Grunde nichts andres. Das heißt für sie, Geschichte
begreifen
, ihre Erkenntnis vertiefen. In der Tiefe aber liegt für den zivilisierten Menschen immer der
vernunftgemäße Zweck
. Ohne ihn wäre seine Welt sinnlos. Allerdings ist die gar nicht physikalische
Freiheit in der Wahl der grundlegenden Ursachen
nicht ohne Komik. Der eine wählt diese, der andre jene Gruppe als
prima causa
– eine unerschöpfliche Quelle wechselseitiger Polemik – und alle füllen ihre Werke mit vermeintlichen Erklärungen des Ganges der Geschichte im Stil naturhafter Zusammenhänge. Schiller hat dieser Methode durch eine seiner unsterblichen Banalitäten, den Vers vom Weltgetriebe, das sich »durch Hunger und durch Liebe« erhält, den klassischen Ausdruck gegeben. Das 19. Jahrhundert, vom Rationalismus zum Materialismus fortschreitend, hat seine Meinung zu kanonischer Geltung erhoben. Damit war der Kult des Nützlichen an die Spitze gestellt. Ihm hat Darwin im Namen des Jahrhunderts Goethes Naturlehre zum Opfer gebracht. Die organische Logik der Tatsachen des Lebens wurde durch eine mechanische – in physiologischer Einkleidung – ersetzt. Vererbung, Anpassung, Zuchtwahl sind Zweckmäßigkeitsursachen von rein mechanischem Gehalt. An Stelle geschichtlicher
Fügungen
tritt die naturhafte
Bewegung
»im Raume«. Aber gibt es historische, seelische, gibt es überhaupt lebendige »
Prozesse
«? Haben historische »Bewegungen«, die Zeit der Aufklärung oder die Renaissance etwa, irgend etwas mit dem
Naturbegriff
der Bewegung zu tun? Mit dem Worte Prozeß war das Schicksal abgetan. Das Geheimnis des Werdens war enthüllt. Es gab keine tragische, es gab nur noch eine mathematische Struktur des Weltgeschehens. Der »exakte« Historiker setzt nunmehr voraus, daß im Geschichtsbild eine Folge von Zuständen von mechanischem Typus vorliegt, daß sie verstandesmäßiger Zergliederung wie ein physikalisches Experiment oder eine chemische Reaktion zugänglich ist, und daß mithin die Gründe, Mittel, Wege, Ziele ein greifbar an der Oberfläche des Sichtbaren liegendes festes Gewebe bilden müssen. Das Bild ist überraschend vereinfacht. Und man muß zugeben, daß bei hinreichender Flachheit des Betrachters die Voraussetzung – für
seine
Person und für deren Weltbild – zutrifft.
Hunger und Liebe [Was dem zugrunde liegt, die metaphysischen Wurzeln von Wirtschaft und Politik, ist in Bd. II, S. 961 ff., 1147f. angedeutet.] – das sind nunmehr mechanische Ursachen mechanischer Prozesse im »Völkerleben«. Sozialprobleme und Sexualprobleme – beide einer Physik oder Chemie des öffentlichen, allzuöffentlichen Daseins angehörend – werden das selbstverständliche Thema utilitarischer Geschichtsbetrachtung und
also auch
der ihr entsprechenden
Tragödie
. Denn das soziale Drama steht mit Notwendigkeit neben der materialistischen Geschichtsbetrachtung. Und was in den »Wahlverwandtschaften« Schicksal im höchsten Sinne war, ist in der »Frau vom Meere« nichts als ein Sexualproblem. Ibsen und alle Verstandespoeten unsrer großen Städte dichten nicht. Sie konstruieren, und zwar einen kausalen Zusammenhang von einer ersten Ursache bis zu einer letzten Wirkung. Hebbels schwere künstlerische Kämpfe galten immer nur dem Versuch, dieses schlechthin Prosaische seiner mehr kritischen als intuitiven Anlage zu überwinden – trotz ihrer ein
Dichter
zu sein –, daher sein unmäßiger, ganz ungoethescher Hang zum
Motivieren
der Begebenheiten. Motivieren bedeutet hier, bei Hebbel wie bei Ibsen, das Tragische
kausal gestalten wollen
. Hebbel redet gelegentlich vom
Schraubenzug
in der Begründung eines Charakters; er hat die Anekdote so lange zerlegt und umgestaltet, bis sie ein System, ein Beweis für einen Fall geworden
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