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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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war: man verfolge seine Behandlung der Judithgeschichte. Shakespeare hätte sie genommen, wie sie war, und in dem physiognomischen Reiz einer echten Begebenheit das Weltgeheimnis geahnt. Aber was Goethe einmal aussprach: »Man suche nur nichts hinter den Phänomenen;
sie selbst sind die Lehre
«, das war dem Jahrhundert von Marx und Darwin nicht mehr verständlich. Man war weit entfernt, in der Physiognomie des Vergangenen ein Schicksal abzulesen, so wenig man in der Tragödie ein reines Schicksal gestalten wollte. Der Kult des Nützlichen hat hier wie dort ein ganz andres Ziel festgelegt. Man gestaltete, um etwas zu beweisen. »Fragen« der Zeit werden »behandelt«, soziale Probleme zweckmäßig »gelöst«. Die Szene ist wie das Geschichtswerk ein Mittel dazu. Der Darwinismus hat, so unbewußt das geschehen sein mag, die Biologie politisch wirksam gemacht. Es ist irgendwie eine demokratische Rührigkeit in den hypothetischen Urschleim gekommen, und der Kampf der Regenwürmer um ihr Dasein erteilt den zweibeinigen Schlechtweggekommenen eine gute Lehre.
    Und doch hätten die Historiker gerade von den Vertretern unsrer reifsten und strengsten Wissenschaft, der Physik, Vorsicht lernen sollen. Die kausale Methode zugegeben, so ist es die Flachheit ihrer Anwendung, die beleidigt. Hier fehlt es an geistiger Disziplin, an Tiefe des Blicks, von der Skepsis, welche der Art des Gebrauchs physikalischer Hypothesen innewohnt, ganz zu schweigen. [Die Hypothesenbildung erfolgt schon in der Chemie viel unbedenklicher, und zwar infolge ihrer geringeren Verwandtschaft zur Mathematik. Ein Kartenhaus von Vorstellungen, wie es die augenblicklichen Forschungen über Atomstruktur zeigen (vgl. z. B. M. Born, Der Aufbau der Materie, 1920), wäre in der Nähe der elektromagnetischen Lichttheorie unmöglich, deren Urheber sich über die Grenze zwischen mathematischer Einsicht und deren Veranschaulichung durch ein
Bild
– nicht mehr! – beständig klar blieben.] Denn der Physiker betrachtet seine Atome und Elektronen, Ströme und Kraftfelder, den Äther und die Masse weitab vom Köhlerglauben des Laien und Monisten als
Bilder
, die er den abstrakten Beziehungen seiner Differentialgleichungen unterlegt, in die er unanschauliche Zahlen kleidet, und zwar mit einer gewissen Freiheit der Wahl zwischen mehreren Theorien, ohne in ihnen eine andre Wirklichkeit als die konventioneller Zeichen [Zwischen diesen Bildern und den Bezeichnungen einer Schalttafel besteht dem Wesen nach kein Unterschied.] zu suchen. Und er weiß, daß auf diesem, der Naturwissenschaft allein möglichen Wege außer Erfahrungen über die technische Struktur der Umwelt nur deren symbolische Deutung –
nicht mehr
– erreicht werden kann, sicherlich keine »Erkenntnis« im hoffnungsvoll populären Sinne. Das Bild der Natur – Schöpfung und Abbild des Geistes, sein
alter ego
im Bereich des Ausgedehnten –
erkennen
, bedeutet sich selbst erkennen.
    Wie die Physik unsre reifste, so ist die Biologie, welche das Bild des organischen Lebens durchforscht, nach Gehalt und Methode unsre schwächste Wissenschaft. Was
wirklich
Geschichtsforschung sei, reine Physiognomik nämlich, ist durch nichts deutlicher zu machen als durch den Verlauf von Goethes Naturstudien. Er treibt Mineralogie: sogleich fügen sich ihm die Einsichten zum Bilde einer Erdgeschichte zusammen, in dem sein geliebter Granit beinahe das bedeutet, was ich innerhalb der Menschengeschichte das Urmenschliche nenne. Er untersucht bekannte Pflanzen, und das Urphänomen der Metamorphose erschließt sich ihm, die Urgestalt der
Geschichte
alles Pflanzendaseins, und er gelangt weiterhin zu jenen seltsam tiefen Einsichten über die Vertikal- und Spiraltendenz der Vegetation, die noch heute nicht recht begriffen worden sind. Seine Knochenstudien, durchaus auf Anschauen des Lebendigen gerichtet, führen ihn zur Entdeckung des
os intermaxillare
beim Menschen und der Einsicht, daß das Schädelgerüst der Wirbeltiere sich aus sechs Wirbelknochen entwickelt hat. Nirgends ist von Kausalität die Rede. Er empfand die Notwendigkeit des Schicksals so, wie er sie in seinen orphischen Urworten ausgedrückt hat:
So
mußt
du sein, dir kannst du nicht entfliehen.
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
    Die bloße Chemie der Gestirne, die
mathematische
Seite physikalischer Beobachtungen, die eigentliche Physiologie kümmern ihn, den großen Historiker

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