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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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der Natur, sehr wenig, weil sie Systematik, Erfahrung von Gewordnem, Totem, Starrem sind, und dies liegt seiner Polemik gegen Newton zugrunde – ein Fall, in dem beide recht haben: der eine
erkannte
in der toten Farbe den gesetzlichen Naturprozeß, der andre, der Künstler, hatte das intuitiv-sinnliche
Erlebnis
; hier liegt der Gegensatz beider Welten zutage und ich fasse ihn jetzt in seiner ganzen Schärfe zusammen.
    Die Geschichte trägt
das Merkmal des Einmalig-tatsächlichen
, die Natur das des
Ständig-möglichen
. Solange ich das Bild der Umwelt daraufhin beobachte, nach welchen Gesetzen es sich verwirklichen
muß
, ohne Rücksicht darauf, ob es geschieht oder nur geschehen könnte, zeitlos also, bin ich Naturforscher, treibe ich eine echte Wissenschaft. Es macht für die Notwendigkeit eines Naturgesetzes – und andere Gesetze gibt es nicht – nicht das geringste aus, ob es unendlich oft oder nie in Erscheinung tritt, d. h. es ist
vom Schicksal unabhängig
. Tausende von chemischen Verbindungen kommen nie vor und werden nie hergestellt werden, aber sie sind als möglich bewiesen und also sind sie da – für das
feste System der Natur, nicht für die Physiognomie des kreisenden Weltalls
. Ein System besteht aus Wahrheiten, eine Geschichte beruht auf Tatsachen. Tatsachen folgen
auf
einander, Wahrheiten
aus
einander: das ist der Unterschied zwischen dem Wann und dem Wie. Es
hat
geblitzt – das ist eine Tatsache, auf die schweigend mit dem Finger gedeutet werden kann.
Wenn
es blitzt, so donnert es – das verlangt zur Mitteilung einen
Satz
. Das Erleben kann wortlos sein; systematisches Erkennen gibt es nur durch Worte. »Definierbar ist nur, was keine Geschichte hat«, sagt Nietzsche einmal. Geschichte aber ist gegenwärtiges Geschehen mit dem Zug in die Zukunft und einem Blick auf die Vergangenheit. Die Natur steht jenseits aller Zeit, mit dem Merkmal der Ausdehnung, aber ohne Richtung. In dieser liegt die Notwendigkeit des Mathematischen, in jener die des Tragischen.
    In der Wirklichkeit des wachen Daseins verweben sich beide Welten, die der Beobachtung und die der Hingebung, wie in einem Brabanter Wandteppich Kette und Einschlag das Bild »wirken«. Jedes Gesetz muß, um für das Verstehen überhaupt
vorhanden
zu sein, einmal durch eine Schicksalsfügung innerhalb der Geistesgeschichte entdeckt, d. h.
erlebt
worden sein; jedes Schicksal erscheint in einer sinnlichen Verkleidung – Personen, Taten, Szenen, Gebärden –, in welcher Naturgesetze am Werke sind. Das urmenschliche Leben war der dämonischen Einheit des Schicksalhaften hingegeben; im Bewußtsein reifer Kulturmenschen kommt der Widerspruch jenes frühen und dieses späten Weltbildes niemals zum Schweigen; im zivilisierten Menschen erliegt das tragische Weltgefühl dem mechanisierenden Intellekt. Geschichte und Natur stehen
in uns
einander gegenüber wie Leben und Tod, wie die
ewig werdende
Zeit und der
ewig gewordene Raum
. Im Wachsein ringen Werden und Gewordnes um den Vorrang im Weltbilde. Die höchste und reifste Form beider Arten der Betrachtung, wie sie nur großen Kulturen möglich ist, erscheint für die antike Seele im Gegensatz von Plato und Aristoteles, für die abendländische in dem von Goethe und Kant: die reine Physiognomie der Welt, erschaut von der Seele eines ewigen Kindes, und die reine Systematik, erkannt vom Verstand eines ewigen Greises.
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    Und hier erblicke ich nunmehr die
letzte
große Aufgabe abendländischer Philosophie, die einzige, welche der Altersweisheit der faustischen Kultur noch aufgespart ist, die, welche durch eine jahrhundertelange Entwicklung unseres Seelentums vorbestimmt erscheint. Es steht keiner Kultur frei, den Weg und die Haltung ihres Denkens zu
wählen
; hier zum erstenmal aber kann eine Kultur voraussehen, welchen Weg das Schicksal für sie gewählt hat.
    Mir schwebt eine rein abendländische Art, Geschichte im höchsten Sinne zu erforschen, vor, die bisher noch nie aufgetaucht ist und die der antiken und jeder andern Seele fremd bleiben mußte. Eine umfassende Physiognomie des gesamten Daseins, eine Morphologie des Werdens
aller
Menschlichkeit, die auf ihrem Wege bis zu den höchsten und letzten Ideen vordringt; die Aufgabe, das Weltgefühl nicht nur der eignen, sondern das
aller
Seelen zu durchdringen, in denen große Möglichkeiten überhaupt bisher erschienen und deren Ausdruck im Bilde des Wirklichen die einzelnen Kulturen sind. Dieser philosophische Blick, zu dem die analytische Mathematik,

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