Der Untergang des Abendlandes
Jahrhunderts, erklärt in einer Betrachtung über englische Parkanlagen, daß gotische Ruinen
den Triumph der Zeit über die Kraft
, griechische den der Barbarei über den Geschmack darstellen. Damals erst wurde die Schönheit des Rheins mit seinen Ruinen entdeckt. Er war von nun an der
historische
Strom der Deutschen.] Etwas Bizarreres ist kaum je ersonnen worden. Die ägyptische Kultur restaurierte die Bauten der Frühzeit, aber sie würde niemals den
Bau von Ruinen
als Symbolen der Vergangenheit gewagt haben. Aber wir lieben eigentlich auch nicht die antike Statue, sondern den antiken
Torso
. Er hat ein Schicksal gehabt; etwas in die Ferne Weisendes umgibt ihn, und das Auge sucht gern den leeren Raum der fehlenden Glieder mit dem Takt und Rhythmus unsichtbarer Linien zu erfüllen. Eine gute Ergänzung – und der geheimnisvolle Zauber unendlicher Möglichkeiten ist zu Ende. Ich wage zu behaupten, daß die Reste der antiken Skulptur erst durch diese
Transposition ins Musikalische
uns nähertreten konnten. Die grüne Bronze, der geschwärzte Marmor, die zertrümmerten Glieder einer Figur heben für unser inneres Auge die Schranken von Ort und Zeit auf. Man hat das
malerisch
genannt – »fertige« Statuen, Bauten,
nicht
verwilderte Parks sind unmalerisch – und in der Tat entspricht es der tieferen Bedeutung des Atelierbrauns, [Das
Nachdunkeln
alter Gemälde erhöht für unser Gefühl deren Gehalt, mag der Kunstverstand tausendmal dagegen sprechen. Hätten die verwendeten Öle die Bilder zufällig blasser werden lassen, so wäre das als Zerstörung empfunden worden.] aber man meinte im letzten Grunde den Geist der instrumentalen Musik. Man frage sich, ob der Doryphoros Polyklets, in funkelnder Bronze vor uns stehend, mit Emailaugen und vergoldetem Haar, dieselbe Wirkung tun könnte wie der vom Alter geschwärzte, ob der vatikanische Torso des Herakles nicht seinen mächtigen Eindruck einbüßte, wenn eines Tages die fehlenden Glieder gefunden würden, ob die Türme und Kuppeln unsrer alten Städte nicht ihren tiefen metaphysischen Reiz verlören, wenn man sie mit neuem Kupfer beschlüge. Das Alter adelt für uns wie für die Ägypter alle Dinge. Für den antiken Menschen entwertet es sie.
Hiermit hängt endlich die Tatsache zusammen, daß die abendländische Tragödie »
historische
«, nicht etwa nachweisbar wirkliche oder mögliche – das ist nicht der eigentliche Sinn des Wortes – sondern
entfernte, patinierte
Stoffe aus demselben Gefühl vorzog: daß nämlich ein Ereignis von reinem Augenblicksgehalt, ohne Raum- und Zeitferne, ein antikes tragisches Faktum, ein zeitloser Mythos nicht das ausdrücken könne, was die faustische Seele ausdrücken wollte und mußte. Wir haben also Tragödien der Vergangenheit und Tragödien der Zukunft – zu letzteren, in denen der kommende Mensch Träger eines Schicksals ist, gehören in einem gewissen Sinne Faust, Peer Gynt, die Götterdämmerung –, aber Tragödien der Gegenwart besitzen wir nicht, wenn man von der belanglosen Sozialdramatik des 19. Jahrhunderts absieht. Shakespeare wählte, wenn er einmal in Gegenwärtigem Bedeutendes ausdrücken wollte, immer wenigstens fremde Länder, in denen er nie gewesen war, am liebsten Italien; deutsche Dichter gern England und Frankreich – alles das aus einer Abweisung der örtlichen und zeitlichen Nähe, welche das attische Drama selbst im Mythos noch betonte.
II. Akt und Porträt
11
Man hat die Antike eine Kultur des Leibes, die nordische eine Kultur des Geistes genannt, nicht ohne den Hintergedanken, damit die eine zugunsten der andern zu entwerten. So trivial der im Renaissancegeschmack gehaltene Gegensatz von antik und modern, heidnisch und christlich zumeist gemeint ist, so hätte er doch zu entscheidenden Aufschlüssen führen können, vorausgesetzt, daß man hinter der Formel ihren Ursprung zu finden verstand.
Ist die Umwelt des Menschen, gleichviel was sie sonst noch sein mag, ein Makrokosmos in bezug auf einen Mikrokosmos, ein ungeheurer Inbegriff von
Symbolen
, so mußte auch der Mensch selbst, soweit er dem Gewebe des Wirklichen angehört, soweit er
Erscheinung
ist, von dieser Symbolik ergriffen werden. Was war es aber, das am Eindruck des Menschen auf seinesgleichen den Rang eines Symbols beanspruchen, sein Wesen und den Sinn seines Daseins in sich sammeln und greifbar vor Augen stellen durfte? Die Antwort gibt die Kunst.
Aber die Antwort mußte in jeder Kultur eine andre sein. Jede hat einen andern
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