Der Untergang des Abendlandes
dasselbe wie das allseitig durchgebildete Muskelrelief: beide enthalten die
ganze
Formensprache des Werks.
Es ist ein streng metaphysischer Grund, das Bedürfnis nach einem Lebenssymbol ersten Ranges, das die Hellenen der Spätzeit zu dieser Kunst führte, deren Enge allein durch die Meisterschaft ihrer Leistungen verdeckt worden ist. Denn es ist nicht wahr, daß diese Sprache der Außenfläche die vollkommenste, natürlichste oder auch nur nächstliegende der Menschendarstellung sei. Das Gegenteil ist der Fall. Hätte nicht die Renaissance mit dem vollen Pathos ihrer Theorie und einer gewaltigen Täuschung über ihre eignen Tendenzen unser Urteil bis heute beherrscht, während uns die Plastik selbst innerlich ganz fremd geworden war, so hätten wir das Absonderliche des attischen Stils längst bemerkt. Der ägyptische und chinesische Bildhauer dachten gar nicht daran, den anatomischen Außenbau zur Grundlage des von ihnen gewollten Ausdrucks zu machen. Für gotische Bildwerke endlich kommt die Sprache der Muskeln nirgends in Frage. Dies menschliche Rankenwerk, das in unzähligen Statuen und Reliefgestalten – an der Kathedrale von Chartres sind es mehr als zehntausend – das gewaltige Steingefüge umspinnt, ist nicht nur Ornament; es dient schon gegen 1200 zum Ausdruck von Entwürfen, vor denen selbst das Größte verschwindet, was die antike Plastik geschaffen hat. Denn diese Scharen von Wesen bilden eine
tragische Einheit
. Hier hat, noch vor Dante, der Norden das historische Gefühl der faustischen Seele, wie es im Ursakrament der Buße [Vgl. Bd. II, S. 918f.] den geistigen Ausdruck und zugleich – in der Beichte – die große Schule findet, zu einem Weltendrama verdichtet. Was Joachim von Floris eben jetzt in seinem apulischen Kloster schaute: das Bild der Welt nicht als Kosmos, sondern als Heilsgeschichte in der Folge von drei Weltaltern, das entstand in Chartres, Reims, Amiens und Paris als Bilderfolge vom Sündenfall bis zum Jüngsten Gericht. Jede der Szenen und der großen symbolischen Gestalten erhielt ihren bedeutsamen Platz an dem heiligen Bau. Jede spielte ihre Rolle in dem ungeheuren Weltgedicht. Und ebenso empfand nun jeder einzelne Mensch, wie sein Lebenslauf als Ornament dem Plan der Heilsgeschichte eingefügt war, und er erlebte diesen persönlichen Zusammenhang in den Formen der Buße und Beichte. Deshalb standen diese Körper aus Stein nicht nur im Dienste der Architektur; sie bedeuteten noch etwas Tiefes und Einziges für sich selbst, das auch die Grabdenkmäler seit den Königsgräbern von St. Denis mit immer wachsender Innerlichkeit zum Ausdruck bringen: sie reden von einer
Persönlichkeit
. Was dem antiken Menschen die vollkommene Durchbildung der körperlichen
Oberfläche
bedeutete – denn das ist der letzte Sinn allen anatomischen Ehrgeizes der griechischen Künstler: das Wesen der lebendigen Erscheinung durch die Gestaltung ihrer Grenzflächen zu erschöpfen –, das wurde für den faustischen Menschen folgerichtig das
Porträt
, der eigentlichste und einzig erschöpfende Ausdruck seines Lebensgefühls. Die hellenische Behandlung des Nackten ist der große Ausnahmefall, und sie hat nur dieses eine Mal zu einer Kunst von hohem Range geführt. [In andern Landschaften wie Altägypten oder Japan – um eine besonders törichte und flache Begründung vorwegzunehmen – war der Anblick nackter Menschen viel alltäglicher als gerade in Athen, aber der heutige japanische Kunstkenner empfindet die betonte Darstellung des Nackten als lächerlich und banal. Der Akt kommt vor, wie er in der Darstellung von Adam und Eva auch schon am Bamberger Dom vorkommt, aber als Gegenstand ohne irgendwie bedeutende Möglichkeiten.]
Man hat beides,
Akt und Porträt
, noch nie als Gegensatz empfunden und deshalb beide noch nie in der ganzen Tiefe ihrer kunstgeschichtlichen Erscheinung aufgefaßt. Und trotzdem offenbart sich der volle Gegensatz zweier Welten erst im Widerstreit dieser Formideale. Dort wird in der Haltung des Außenbaus ein
Wesen
zur Schau gestellt. Hier redet der menschliche Innenbau, die Seele, wie das Innere eines Doms durch die Fassade, das »Gesicht« zu uns. Eine Moschee hat kein Gesicht und deshalb mußte der Bildersturm der Moslime und christlichen Paulikianer, der unter Leo III. auch über Byzanz dahinfuhr, das Bildnishafte aus der bildenden Kunst vertreiben, die von da an einen festen Schatz menschlicher Arabesken besaß. In Ägypten gleicht das Gesicht der Statue dem Pylon als dem
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