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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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Eindruck vom Leben, weil jede anders lebt. Es ist für das Bild des Menschlichen, das metaphysische wie das ethische und künstlerische, schlechthin entscheidend, ob der Einzelne sich als Körper unter Körpern oder als Mitte eines unendlichen Raumes fühlt, ob er grübelnd die Einsamkeit seines Ich oder dessen substanzielle Teilhaberschaft am allgemeinen Consensus erkennt, ob er durch den Takt und Gang seines Lebens das Gerichtetsein betont oder verleugnet. In alledem kommt das Ursymbol der großen Kulturen zum Vorschein. Es sind Weltgefühle, aber die Lebensideale stimmen mit ihnen überein. Aus dem antiken Ideal folgte die rückhaltlose Hinnahme des sinnlichen Augenscheins, aus dem abendländischen dessen ebenso leidenschaftliche Überwindung. Die apollinische Seele, euklidisch, punktförmig, empfand den empirischen, sichtbaren Leib als den vollkommenen Ausdruck ihrer Art, zu sein; die faustische, in alle Fernen schweifend, fand diesen Ausdruck nicht in der Person, dem
soma
, sondern in der
Persönlichkeit
, dem
Charakter
oder wie man es nennen will. »Seele« – das war für den echten Hellenen zuletzt die Form seines Leibes. So hat Aristoteles sie definiert. »Leib« – das war für den faustischen Menschen das Gefäß der Seele. So empfand Goethe.
    Aber daraus ergibt sich nun die Wahl und Ausgestaltung sehr verschiedener menschenbildender Künste. Wenn Gluck den Schmerz der Armida durch eine Melodie und den trostlos nagenden Ton der begleitenden Instrumente ausdrückt, so geschieht das bei den pergamenischen Skulpturen durch die Sprache der gesamten Muskulatur. Die hellenistischen Bildnisse suchen durch den Bau des Kopfes einen geistigen
Typus
zu zeichnen. In China geben die Köpfe der Heiligen von Ling-yän-si durch den Blick und das Spiel der Mundwinkel Kunde von einem
ganz persönlichen
Innenleben.
    Der antike Hang, den Leib allein reden zu lassen, folgt durchaus nicht aus einem Überschwang der Rasse. Es ist
nicht
die Weihe des Blutes – das der Mensch der σωφροσυνη nicht zu verschwenden hatte [Man braucht da nur griechische Künstler neben Rubens und Rabelais zu stellen.] – 
nicht
, wie Nietzsche meinte, die orgiastische Freude an ungebändigter Energie und überschäumender Leidenschaft. Das alles würde eher zu den Idealen des germanisch-katholischen und indischen Rittertums gehören. Was der apollinische Mensch und seine Kunst für sich allein in Anspruch nehmen dürfen, ist lediglich die Apotheose der leiblichen
Erscheinung
im wörtlichen Sinne, das rhythmische Ebenmaß des Gliederbaus und die harmonische Ausbildung der Muskulatur. Das ist
nicht
heidnisch im Gegensatz zum Christentum. Das ist attisch im Gegensatz zum Barock. Erst der Mensch des Barock, mochte er Christ oder Heide, Rationalist oder Mönch sein, stand diesem Kultus des betastbaren
soma
fern bis zur äußersten körperlichen Unreinlichkeit, wie sie in der Umgebung Ludwigs XIV. [Von dem eine seiner Geliebten klagte,
qu'il puait comme une charogne
. Übrigens haben gerade Musiker immer im Rufe der Unreinlichkeit gestanden.] herrschte, deren Kostüm von der Allongeperücke bis zu den Spitzenmanschetten und Schnallenschuhen den Körper mit einem ornamentalen Gespinst ganz überzog.
    Und so entwickelte sich die antike Plastik, nachdem sie die Gestalt von der gesehenen oder gefühlten Wand abgelöst und frei, beziehungslos auf die Ebene gestellt hatte, wo sie als Körper unter Körpern allseitig betrachtet werden durfte, folgerichtig weiter bis zur ausschließlichen Darstellung des
nackten
Leibes. Und zwar, im Gegensatz zu jeder andern Art von Plastik der gesamten Kunstgeschichte, durch die
anatomisch überzeugende Behandlung seiner Grenzflächen
. Damit ist das euklidische Weltprinzip bis zum äußersten getrieben. Jede Hülle hätte noch einen leisen Widerspruch gegen die apollinische Erscheinung, eine wenn auch noch so zaghafte Andeutung des umgebenden Raumes enthalten.
    Das Ornamentale im
großen
Sinne liegt ganz in den Proportionen des Aufbaus [Vom feierlichen Kanon des Polyklet bis zum eleganten des Lysipp vollzieht sich dieselbe Entlastung des Aufbaus wie in dem Fortschreiten von der dorischen zur korinthischen Säulenordnung. Das euklidische Gefühl beginnt sich zu lösen.] und dem Ausgleich der Achsen nach Stütze und Last. Der stehende, sitzende, liegende, jedenfalls in sich gefestigte Leib besitzt ebenso wie der Peripteros kein Innen, das heißt keine »Seele«. Die ringsum geschlossene Säulenstellung bedeutet

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