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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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Antlitz der Tempelanlage, ein mächtiges Aufragen aus der Steinmasse des Leibes, wie es die »Hyksossphinx von Tanis«, das Porträt Amenemhets III., zeigt. In China gleicht das Gesicht einer Landschaft voller Runzeln und kleiner Merkmale, die etwas bedeuten. Für uns aber ist das Bildnis
Musik
. Der Blick, das Spiel des Mundes, die Haltung des Kopfes, die Hände – das ist eine Fuge von zartester Bedeutung, die dem verstehenden Betrachter vielstimmig entgegen
klingt
.
    Um aber die Bedeutung des abendländischen Porträts selbst noch im Gegensatz zum ägyptischen und chinesischen zu erkennen, muß man eine tiefe Wandlung in den Sprachen des Abendlandes betrachten, die seit der Merowingerzeit die Heraufkunft eines neuen Lebensgefühls ankündigt. Sie erstreckt sich
gleichmäßig
auf das Altgermanische und das Vulgärlatein, für beide aber nur auf die Sprachen innerhalb der Mutterlandschaft der nahenden Kultur, also auf Norwegisch und Spanisch, aber nicht auf das Rumänische. Aus dem Geist der Sprachen und der »Einwirkung« der einen auf die andre kann das nicht erklärt werden, nur aus dem Geist des Menschentums, das den Wortgebrauch zum Symbol erhebt. Statt
sum
, gotisch
im
, sagt man:
ich bin, I am, je suis
; statt
fecisti
heißt es:
tu habes factum, tu as fait, du habes gitân
, und weiterhin:
daz wîp, un homme, man hat
. Das war bis jetzt ein Rätsel, [Kluge, Deutsche Sprachgeschichte (1920), S. 202 ff.] weil man Sprachfamilien als Wesen ansah. Es verliert das Geheimnisvolle, wenn man im Satzbau das Abbild einer Seele entdeckt. Hier beginnt die faustische Seele grammatische Zustände verschiedenster Herkunft für sich umzuprägen. Dies hervortretende »Ich« enthält die erste Morgenröte jener Idee der Persönlichkeit, die viel später das Sakrament der Buße und
persönlichen
Lossprechung schuf. Dieses »
ego
habeo factum«, die Einschaltung der Hilfszeitwörter haben und sein zwischen einen Täter und eine Tat an Stelle des
feci, eines bewegten Leibes
, ersetzt die Welt von Körpern durch eine solche von Funktionen zwischen Kraftmittelpunkten, die Statik des Satzes durch Dynamik. Und dieses »Ich« und »Du« löst das Geheimnis des gotischen Porträts. Ein hellenistisches Bildnis ist der Typus einer Haltung, kein »Du«, keine Beichte vor dem, der es schafft oder versteht. Unsre Bildnisse schildern etwas
Einzigartiges
, das einmal war und nie wiederkehrt, eine Lebensgeschichte im Ausdruck eines Augenblicks, eine Weltmitte, für die alles andre
ihre
Welt ist, so wie das »Ich« zur Kraftmitte des faustischen Satzes wird.
    Es war gezeigt worden, wie das Erlebnis des
Ausgedehnten
seinen Ursprung in der lebendigen
Richtung
, der Zeit, dem
Schicksal
hat. Im vollendeten Sein des freistehenden nackten Körpers wird das Tiefenerlebnis abgeschnitten; der »Blick« eines Bildnisses leitet es ins Übersinnlich-Unendliche. Deshalb ist die antike Plastik eine Kunst der Nähe, des Betastbaren, des Zeitlosen. Deshalb liebt sie Motive der kurzen, allerkürzesten Ruhe zwischen zwei Bewegungen, den letzten Augenblick
vor
dem Wurf des Diskos, den ersten
nach
dem Flug der Nike des Paionios, wo der Schwung des Leibes zu Ende ist und die wehenden Gewänder noch nicht fallen, eine Haltung, die gleichweit von Dauer und Richtung entfernt ist, abgesetzt gegen
Zukunft und
Vergangenheit.
Veni, vidi, vici
– das
ist
solch eine Haltung. Ich – kam, ich – sah, ich – siegte: da
wird
etwas noch einmal im Aufbau des Satzes.
    Das Tiefenerlebnis ist ein Werden und bewirkt ein Gewordenes; es bedeutet Zeit und ruft den Raum hervor; es ist kosmisch und historisch zugleich. Die lebendige Richtung geht zum
Horizont wie zur Zukunft
. Von Zukunft träumt schon die Madonna der St. Annenpforte von Notre-Dame (1230) und später die »Madonna mit der Erbsenblüte« des Meisters Wilhelm (1400). Über ein Schicksal sinnt, lange vor dem Moses des Michelangelo, der des Klaus Sluter am Brunnen von Dijon (1390), und auch den Sibyllen der sixtinischen Kapelle gehen die des Giovanni Pisano an der Kanzel in Pistoia (1300) vorauf. Und endlich ruhen die Gestalten auf allen Grabdenkmälern der Gotik von einem langen Schicksal aus, ganz im Gegensatz zu dem
zeitlosen
Ernst und Spiel, wie es die Grabstelen der attischen Friedhöfe schildern. [A. Conze, Die attischen Grabreliefs (1893 ff.).] Das abendländische Porträt ist unendlich in
jedem
Sinne, von 1200 an, wo es aus dem Stein erwacht, bis ins 17. Jahrhundert, wo es ganz Musik wird. Es faßt den Menschen

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