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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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nicht nur als Mittelpunkt des natürlichen Weltalls, dessen Erscheinung von seinem Sein Gestalt und Bedeutung empfängt; es faßt ihn vor allem als Mittelpunkt der Welt als Geschichte. Die antike Statue ist ein Stück gegenwärtiger Natur und nichts außerdem. Die antike Dichtung gibt Statuen in Worten. Hier liegt die Wurzel für unser Gefühl, das den Griechen eine reine Hingabe an die Natur zuschreibt. Wir werden uns nie ganz von dem Empfinden befreien, daß der gotische Stil neben dem griechischen
Unnatur
ist, nämlich
mehr
als »Natur«. Nur verhehlen wir uns, daß darin das Empfinden eines Mangels bei den Griechen zu Worte kommt. Die abendländische Formensprache ist reicher. Das Porträt gehört der Natur
und
der Geschichte an. Ein Grabmal der großen Niederländer, die seit 1260 an den Königsgräbern in St. Denis arbeiteten, ein Bildnis von Holbein, Tizian, Rembrandt oder Goya ist eine
Biographie;
ein Selbstporträt ist eine
geschichtliche Beichte.
Beichten heißt nicht eine Tat eingestehen, sondern die innere
Geschichte
dieser Tat dem Richter vorlegen. Die Tat ist offenkundig; ihre
Wurzeln
sind das persönliche Geheimnis. Wenn der Protestant und der Freigeist sich gegen die Ohrenbeichte auflehnen, so kommt es ihnen nicht zum Bewußtsein, daß sie nicht die Idee, sondern nur ihre äußere Fassung verwerfen. Sie weigern sich, dem Priester zu beichten, aber sie beichten sich selbst, dem Freunde oder der Menge. Die gesamte nordische Poesie ist eine laute Bekenntniskunst. Das Porträt Rembrandts und die Musik Beethovens sind es auch. Was Raffael, Calderon und Haydn dem Priester mitteilten, haben jene in die Sprache ihrer Werke übertragen. Wer schweigen muß, weil ihm die
Größe
der Form versagt blieb, um auch das letzte aufzunehmen, geht zugrunde wie Hölderlin. Der abendländische Mensch lebt mit dem
Bewußtsein
des Werdens, mit dem ständigen Blick auf Vergangenheit und Zukunft. Der Grieche lebt punktförmig, unhistorisch, somatisch. Kein Grieche wäre einer echten Selbstkritik fähig gewesen. Auch das liegt in der Erscheinung der nackten Statue, dem vollkommen
unhistorischen
Abbild eines Menschen. Ein Selbstporträt ist das genaue Seitenstück der Selbstbiographie in der Art des »Werther« und »Tasso«, und das eine der Antike so fremd wie das andre. Es gibt nichts Unpersönlicheres als die griechische Kunst. Daß Skopas oder Lysippos ein Bildnis von sich selbst gemacht hätten, kann man sich gar nicht vorstellen.
    Man betrachte bei Phidias, bei Polyklet, bei irgendeinem andern Meister nach den Perserkriegen die Wölbung der Stirn, die Lippen, den Ansatz der Nase, das blind gehaltene Auge – wie das alles der Ausdruck einer ganz unpersönlichen, pflanzenhaften,
seelenlosen
Lebenshaltung ist. Man frage sich, ob diese Formensprache imstande wäre, ein inneres Erlebnis auch nur anzudeuten. Es gab nie eine Kunst, für welche so ausschließlich nur die mit dem Auge betastbare Oberfläche von Körpern in Betracht kam. Bei Michelangelo, der sich mit seiner ganzen Leidenschaft dem Anatomischen ergab, ist trotzdem die leibliche Erscheinung stets der Ausdruck der Arbeit aller Knochen, Sehnen, Organe
des Innern;
das Lebendige
unter
der Haut tritt in Erscheinung, ohne daß es gewollt war. Es ist eine Physiognomik, keine Systematik der Muskulatur, die er ins Leben rief. Aber damit war bereits das persönliche Schicksal, nicht der stoffliche Leib der eigentliche Ausgangspunkt des Formgefühls geworden. Es liegt mehr Psychologie (und weniger »Natur«) im Arm eines seiner Sklaven als im Kopfe des praxitelischen Hermes. Beim Diskobolos des Myron ist die äußere Form ganz für sich da ohne alle Beziehung auf die inneren Organe, geschweige denn die »Seele«. Man vergleiche mit den besten Arbeiten dieser Zeit die altägyptischen Statuen etwa des Dorfschulzen oder des Königs Phiops, oder andrerseits den David des Donatello, und man wird verstehen, was es heißt, einen Körper nur seiner stofflichen Grenze nach anerkennen. Alles, was bei den Griechen den Kopf als den Ausdruck von etwas Innerlichem und Geistigem erscheinen lassen könnte, ist peinlich vermieden. Gerade bei Myron tritt das hervor. Ist man einmal darauf aufmerksam geworden, so erscheinen die besten Köpfe der Blütezeit, aus der Perspektive unsres gerade entgegengesetzten Weltgefühls betrachtet, nach einer Weile dumm und stumpf. Das Biographische, das
Schicksal
fehlt ihnen. Nicht umsonst waren ikonische Statuen als Weihgeschenke in dieser Zeit verpönt. Die

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