Der Untergang des Abendlandes
absolut Guten und dem absolut Bösen, und man wird bemerken, daß im abendländischen Weltgefühl beide Gegensätze
zugleich
verblassen. In demselben Grade wie aus dem gotischen Streit um den Vorrang von
intellectus
oder
voluntas
sich der Wille als Mittelpunkt eines
seelischen
Monotheismus herausbildet, entschwindet die Gestalt des Teufels aus der wirklichen Welt. Zur Barockzeit hat der Pantheismus der Außenwelt einen inneren unmittelbar zur Folge, und was – in welcher Bedeutung auch – der Gegensatz
Gott und Welt
bezeichnen soll, das bezeichnet jedesmal das Wort Wille gegenüber der Seele überhaupt: die allbewegende Kraft in ihrem Reich. [Es versteht sich, daß der Atheismus keine Ausnahme bildet. Wenn der Materialist oder Darwinist von »der Natur« redet, die etwas zweckmäßig anordnet, die eine Auslese trifft, die etwas hervorbringt oder vernichtet, so hat er dem Deismus des 18. Jahrhunderts gegenüber nur ein Wort verändert und das Weltgefühl unverändert bewahrt.] Sobald das religiöse Denken in ein streng wissenschaftliches übergeht, besteht auch ein doppelter Begriffsmythos in Physik und Psychologie. Der Ursprung der Begriffe Kraft, Masse, Wille, Leidenschaft beruht nicht auf objektiver Erfahrung, sondern auf einem Lebensgefühl. Der Darwinismus ist nichts anderes als eine außergewöhnlich flache Fassung dieses Gefühls. Kein Grieche würde das Wort Natur im Sinne einer absoluten und planmäßigen Aktivität so gebraucht haben, wie die moderne Biologie es tut. Der »Wille Gottes« ist für uns ein Pleonasmus. Gott (oder »die Natur«) ist nichts als Wille. So gut der Gottesbegriff seit der Renaissance unmerklich mit dem Begriff des unendlichen Weltraums identisch wird und die sinnlichen, persönlichen Züge verliert – Allgegenwart und Allmacht sind beinahe mathematische Begriffe geworden –, so gut wird er zum unanschaulichen Weltwillen. Die reine Instrumentalmusik überwindet
deshalb
um 1700 die Malerei als das einzige und letzte Mittel, dies Gefühl von Gott zu verdeutlichen. Demgegenüber denke man an die Götter Homers. Zeus besitzt durchaus nicht die volle Macht über die Welt; selbst auf dem Olymp ist er – wie es das apollinische Weltgefühl fordert –
primus inter pares
, Körper unter Körpern. Die blinde Notwendigkeit, die Ananke, welche das antike Wachsein im Kosmos erblickt, ist keineswegs von ihm abhängig. Im Gegenteil: die Götter sind ihr unterworfen. Das wird von Aischylos an einer gewaltigen Stelle des »Prometheus« laut ausgesprochen, aber man fühlt es schon bei Homer im Streit der Götter und an jener entscheidenden Stelle, wo Zeus die Schicksalswaage hebt, um das Los Hektors nicht zu fällen, sondern zu erfahren. Also stellt sich die antike Seele mit ihren Teilen und Eigenschaften als ein Olymp kleiner Götter dar, die in friedlichem Einvernehmen zu halten das Ideal hellenischer Lebensführung, der Sophrosyne und Ataraxia ist. Mehr als ein Philosoph verrät den Zusammenhang, indem er den höchsten Seelenteil, den νουσ, als Zeus bezeichnet. Aristoteles schreibt seiner Gottheit als einzige Funktion die θεωρια, die Beschaulichkeit zu; es ist das Ideal des Diogenes: eine zur Vollkommenheit gereifte Statik des Lebens gegenüber der ebenso vollkommenen Dynamik im Lebensideal des 18. Jahrhunderts.
Das rätselhafte Etwas im Seelenbild, welches das Wort Wille bezeichnet,
die Leidenschaft der dritten Dimension
, ist also ganz eigentlich eine Schöpfung des Barock, wie die Perspektive der Ölmalerei, wie der Kraftbegriff der neueren Physik, wie die Tonwelt der reinen Instrumentalmusik. In allen Fällen hatte die Gotik vorgedeutet, was diese Jahrhunderte der Durchgeistigung zur Reife brachten. Halten wir hier, wo es sich um den
Stil
des faustischen Lebens im Gegensatz zu jedem andern handelt, daran fest, daß die Urworte Wille, Kraft, Raum, Gott, vom
faustischen
Bedeutungsgefühl getragen und durchseelt, Sinnbilder sind, schöpferische Grundzüge großer, einander verwandter Formenwelten, in denen dieses Sein sich zum Ausdruck bringt. Man war bis jetzt des Glaubens, hier »an sich seiende«, ewige Tatsachen mit Händen zu greifen, die irgendwann einmal auf dem Wege kritischer Forschung endgültig gesichert, »erkannt«, bewiesen sein würden. Diese Illusion der Naturwissenschaft war in gleicher Weise die der Psychologie. Die Einsicht, daß diese »allgemeingültigen« Grundlagen
lediglich zum Barockstil des Schauens und Verstehens gehören
, als Ausdrucksformen von
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