Der Untergang des Abendlandes
verdammt das »Ich« als Sünde, und ebenso der – echt russische – Begriff der Wahrheit als der namenlosen Übereinstimmung der Berufenen.
Der antike Mensch, ganz der Gegenwart gehörend, ist ebenfalls ohne die unser Welt- und Seelenbild beherrschende, alle Sinneseindrücke im Zug zur Ferne, alle innern Erlebnisse im Sinn der Zukunft sammelnde Richtungsenergie. Er ist »willenlos«. Darüber läßt die antike Schicksalsidee keinen Zweifel, noch weniger das Symbol der dorischen Säule. Wenn der Widerstreit zwischen Denken und Wollen das geheime Thema aller bedeutenden Bildnisse von Jan van Eyck bis zu Marées ist, so kann das antike Bildnis nichts davon enthalten, denn im antiken Seelenbilde stehen neben dem Denken (νουσ), dem inneren Zeus, die ahistorischen Einheiten der animalischen und vegetativen Triebe (θυμοσ und επιθυμια), ganz somatisch, ganz ohne bewußten Zug und Drang zu einem Ziel.
Wie man das faustische Prinzip bezeichnen will, das uns und nur uns angehört, ist gleichgültig. Name ist Schall und Rauch. Auch Raum ist ein Wort, das in tausend Spielarten im Munde des Mathematikers, Denkers, Dichters, Malers ein und dasselbe Unbeschreibliche ausdrücken möchte, das anscheinend der ganzen Menschheit angehört und doch mit diesem metaphysischen Hintersinn nur innerhalb der abendländischen Kultur die Geltung hat, die wir ihm mit innerer Notwendigkeit zuschreiben. Nicht der Begriff »Wille«, sondern der Umstand, daß es ihn für uns überhaupt gibt, während
die Griechen ihn gar nicht kannten
, hat die Bedeutung eines großen Symbols. Im letzten Grunde besteht zwischen Tiefenraum und Wille kein Unterschied. Den antiken Sprachen fehlt die Bezeichnung für das eine und
also auch
für das andere. [ εθελω und βουλομαι heißen, die Absicht, den Wunsch haben, geneigt sein; βουλη heißt Rat, Plan; zu εθελω gibt es überhaupt kein Hauptwort.
Voluntas
ist kein psychologischer Begriff, sondern in echt römischem Tatsachensinne wie
potestas
und
virtus
eine Bezeichnung für praktische, äußere, sichtbare Begabung, für die
Wucht
eines menschlichen Einzelseins. Wir gebrauchen in diesem Falle das Fremdwort Energie. Der »Wille« Napoleons und die Energie Napoleons: das ist etwas sehr Verschiedenes, wie etwa Flugkraft und Gewicht. Man verwechsle die nach außen gerichtete Intelligenz, die den Römer als zivilisierten Menschen vor dem hellenischen Kulturmenschen auszeichnet, nicht mit dem, was hier Wille genannt ist. Cäsar ist
nicht
Willensmensch im Sinne Napoleons. Bezeichnend ist der Sprachgebrauch im römischen Recht, das der Poesie gegenüber das Grundgefühl der römischen Seele viel ursprünglicher darstellt. Die Absicht heißt hier
animus (animus occidendi)
, der Wunsch, der sich auf Strafbares richtet,
dolus
im Gegensatz zur ungewollten Rechtsverletzung (
culpa
).
Voluntas
kommt als technischer Ausdruck gar nicht vor.] Der reine Raum des faustischen Weltbildes ist nicht bloße Dehnung, sondern Ausdehnung in die Ferne als Wirksamkeit, als Überwindung des Nur-Sinnlichen, als Spannung und Tendenz, als geistiger Wille zur Macht. Ich weiß wohl, wie unzulänglich diese Umschreibungen sind. Es ist vollständig unmöglich, durch exakte Begriffe den Unterschied anzugeben zwischen dem, was wir und was die Menschen der arabischen oder indischen Kultur Raum nennen und bei diesem Worte denken, empfinden und vorstellen.
Daß
es etwas durchaus Verschiedenes ist, beweisen die sehr verschiedenen Grundanschauungen der jeweiligen Mathematik und bildenden Kunst, vor allem die unmittelbaren Äußerungen des
Lebens
. Wir werden sehen, wie die Identität von Raum und Wille in den Taten des Kopernikus und Kolumbus so gut wie in denen der Hohenstaufen und Napoleons zum Ausdruck kommt – Beherrschung des Weltraums –, aber sie liegt in andrer Weise auch in den physikalischen Begriffen des Kraftfeldes und Potentials, die man keinem Griechen hätte verständlich machen können. Raum als die Form
a priori
der Anschauung, die Formel, in welcher Kant endgültig aussprach, was die Barockphilosophie unablässig gesucht hatte – das bedeutet einen
Herrschaftsanspruch
der Seele über das Fremde. Das Ich regiert vermittelst der Form die Welt. [Die chinesische Seele »wandelt in der Welt«: dies ist der Sinn der ostasiatischen Malerperspektive, deren Konvergenzpunkt in der
Bildmitte
, nicht in der Tiefe liegt. Durch die Perspektive werden die Dinge dem Ich, das sie ordnend auffaßt,
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