Der Untergang des Abendlandes
jeder anderen scharf unterscheidet. Der Rationalismus des späten Barock hat sich, mit dem ganzen Stolz des seiner selbst sicher gewordnen städtischen Geistes, für die größere Macht der Göttin Vernunft entschieden, bei Kant und bei den Jakobinern. Aber schon das 19. Jahrhundert hat, vor allem in Nietzsche, wieder die stärkere Formel gewählt:
voluntas superior intellectu
, die uns allen im Blute liegt. [Wenn deshalb auch in diesem Buche Zeit, Richtung und Schicksal den Vorrang vor Raum und Kausalität erhalten, so sind es nicht Beweise des Verstandes, welche die Überzeugung herbeiführen, sondern – ganz unbewußt – Tendenzen des Lebensgefühls, welche
sich Beweise verschafften
. Eine andre Art der Entstehung philosophischer Gedanken gibt es nicht.] Schopenhauer, der letzte große Systematiker, hat das auf die Formel »Die Welt als Wille und Vorstellung« gebracht, und nicht seine Metaphysik, nur seine
Ethik
ist es, die
gegen
den Willen entscheidet.
Hier tritt der geheimste Grund und Sinn allen Philosophierens innerhalb einer Kultur unmittelbar zutage. Denn es ist die
faustische Seele
, die in vierhundertjährigem Mühen
ein Selbstbildnis
zu zeichnen versucht, ein Bild, das zugleich mit dem Bilde der Welt einen tiefgefühlten Einklang aufweist. Die gotische Weltanschauung mit ihrem Ringen zwischen Vernunft und Wille ist in der Tat ein Ausdruck des
Lebensgefühls
jener Menschen der Kreuzzüge, der Stauferzeit und der großen Dombauten.
Man sah die Seele so, weil man so war.
Wollen und Denken im Seelenbilde – das ist Richtung und Ausdehnung, Geschichte und Natur, Schicksal und Kausalität im Bilde der äußeren Welt
. Daß unser Ursymbol die unendliche Ausgedehntheit ist, tritt in diesen Grundzügen beider Aspekte zutage. Der Wille knüpft die Zukunft an die Gegenwart, das Denken das Grenzenlose an das Hier.
Die historische Zukunft ist die werdende, der unendliche Welthorizont die gewordene Ferne
: dies ist der Sinn des faustischen Tiefenerlebnisses. Das Richtungsgefühl wird als »Wille«, das Raumgefühl als »Verstand« wesenhaft, beinahe mythisch vorgestellt: so entsteht das Bild, welches unsre Psychologen mit Notwendigkeit aus dem Innenleben abstrahieren.
Daß die faustische Kultur
Willenskultur
ist, ist nur ein andrer Ausdruck für die eminent historische Veranlagung ihrer Seele. Das »Ich« im Sprachgebrauch –
ego habeo factum
–, der
dynamische
Satzbau also gibt durchaus den Stil des Handelns wieder, welcher aus dieser Anlage folgt und mit seiner Richtungsenergie nicht nur das Bild der »Welt als Geschichte«, sondern unsere Geschichte selbst beherrscht. Dieses »Ich« steigt in der gotischen Architektur empor; die Turmspitzen und Strebepfeiler sind »Ich«,
und deshalb ist die gesamte faustische Ethik ein »Empor«
: Vervollkommnung des Ich, sittliche Arbeit am Ich, Rechtfertigung des Ich durch Glauben und gute Werke, Achtung des Du im Nächsten um des eignen Ich und seiner Seligkeit willen, von Thomas von Aquino bis zu Kant, und endlich das Höchste: Unsterblichkeit des Ich.
Es ist genau das, was der echte Russe als eitel empfindet und verachtet. Die russische, willenlose Seele, deren Ursymbol die unendliche Ebene ist, sucht in der Brüderwelt, der horizontalen, dienend,
namenlos
, sich verlierend aufzugeben. Von
sich
aus an den Nächsten denken,
sich
durch Nächstenliebe sittlich zu heben, für
sich
büßen wollen, ist ihr ein Zeichen westlicher Eitelkeit und frevelhaft wie das In-den-Himmel-dringen-Wollen unsrer Dome im Gegensatz zur kuppelbesetzten Dach
ebene
russischer Kirchen. Tolstois Held Nechludow pflegt sein sittliches Ich wie seine Nägel; eben deshalb gehört Tolstoi der Pseudomorphose des Petrinismus an. Raskolnikow dagegen ist nur irgend etwas in einem »Wir«. Seine Schuld ist die Schuld aller. [Vgl. Bd. II, S. 921, Anm. 1.] Auch nur seine Sünde als etwas Eignes zu betrachten ist Hochmut und Eitelkeit. Etwas davon liegt auch dem magischen Seelenbild zugrunde. »Wenn jemand zu mir kommt«, sagt Jesus (Luk. 14, 26), »und haßt nicht Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern,
vor allem aber sein eignes Ich
(την εαυτου ψυχην), so kann er nicht mein Jünger sein.« Aus diesem Gefühl heraus nennt er sich ein Menschenkind. [»Des Menschen Sohn« ist eine irreführende Übersetzung von
barnasha
; nicht das Sohnesverhältnis, sondern das unpersönliche Aufgehen in der Menschenebene liegt zugrunde.] Auch der
consensus
der Rechtgläubigen ist unpersönlich und
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