Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
Vom Netzwerk:
höherer Ordnung
ihre eigne moralische Fassung besitzt
. Es gibt so viele Moralen, als es Kulturen gibt. Nietzsche, der als erster eine Ahnung davon hatte, ist trotzdem von einer wirklich objektiven Morphologie der Moral – jenseits von
jedem
Gut und
jedem
Böse – weit entfernt geblieben. Er hat die antike, indische, christliche, Renaissancemoral an seinen eignen Wertungen abgeschätzt, statt deren Stil als Symbol zu verstehen. Aber gerade unserem historischen Blick hätte das
Urphänomen der Moral
als solches nicht entgehen sollen. Indessen werden wir erst heute, scheint es, reif dazu. Uns ist, und zwar schon seit Joachim von Floris und den Kreuzzügen, die Vorstellung der Menschheit als eines tätigen, kämpfenden, fortschreitenden Ganzen so notwendig, daß es uns schwer wird einzusehen, daß dies eine ausschließlich abendländische Betrachtungsweise von vorübergehender Geltung und Lebensdauer ist. Dem antiken Geist erscheint die Menschheit als gleichbleibende Masse, und dem entspricht eine ganz anders geartete Moral, deren Dasein sich von der homerischen Frühzeit bis zur Kaiserzeit verfolgen läßt. Überhaupt wird man finden, daß dem im höchsten Grade aktiven Lebensgefühl der faustischen Kultur die chinesische und ägyptische, dem streng passiven der Antike die indische näherstehen.
    Wenn je eine Gruppe von Nationen den Kampf ums Dasein beständig vor Augen hatte, so war es die der antiken Kultur, wo alle die Städte und Städtchen einander bis zur Vernichtung bekämpften, ohne Plan, ohne Sinn, ohne Gnade, Körper gegen Körper, aus einem vollkommen geschichtswidrigen Instinkt. Aber die griechische Ethik war, trotz Heraklit, weit entfernt, den Kampf zu einem
ethischen
Prinzip zu machen. Die Stoiker wie die Epikuräer lehrten den Verzicht auf ihn als Ideal. Die Überwindung von Widerständen ist vielmehr der typische Antrieb der abendländischen Seele. Aktivität, Entschlossenheit, Selbstbehauptung werden gefordert; der Kampf gegen die bequemen Vordergründe des Lebens, die Eindrücke des Augenblicks, des Nahen, Greifbaren, Leichten, die Durchsetzung dessen, was Allgemeinheit und Dauer hat, was Vergangenheit und Zukunft seelisch aneinanderknüpft, ist der Inhalt aller faustischen Imperative von den frühesten Tagen der Gotik bis zu Kant und Fichte und weit darüber hinaus zu dem Ethos der ungeheuren Macht- und Willensäußerungen unsrer Staaten, Wirtschaftsmächte und unsrer Technik. Das
Carpe diem
, das gesättigte Sein des antiken Standpunktes ist der vollkommene Widerspruch gegen das, was Goethe, Kant, Pascal, was die Kirche wie das Freidenkertum als allein wertvoll empfanden, das
tätige, ringende, überwindende
Sein. [Luther hat, und dies ist einer der wesentlichen Gründe für die Wirkung des Protestantismus gerade auf tiefere Naturen, die praktische Tätigkeit – was Goethe die Forderung des Tages nannte – in den Mittelpunkt der Moral gestellt. Die »frommen Werke«, denen die Richtungsenergie im hier angegebenen Sinne fehlt, treten unbedingt zurück. In ihrer Hochschätzung wirkte, wie in der Renaissance, ein Rest von
südlichem
Gefühl. Hier findet man den tiefen ethischen Grund für die steigende Mißachtung, die das Klosterwesen von nun an trifft. In der Gotik war der Eintritt ins Kloster, der Verzicht auf die Sorge, die Tat, das
Wollen
ein Akt von höchstem sittlichem Range. Es war das größte denkbare Opfer: das des
Lebens
. Im Barock empfinden selbst Katholiken nicht mehr so. Die Stätte nicht der Entsagung sondern des untätigen Genießens fiel dem Geist der Aufklärung zum Opfer.]
    Wie alle Formen der Dynamik – die malerische, musikalische, physikalische, soziale, politische – unendliche Zusammenhänge zur Geltung bringen, und nicht wie die antike Physik den Einzelfall und deren Summe, sondern den typischen Verlauf und dessen funktionale Regel betrachten, so hat man unter Charakter das grundsätzlich Gleichbleibende in der Auswirkung des Lebens zu verstehen. Andernfalls spricht man von Charakterlosigkeit. Charakter ist, als Form einer bewegten Existenz, in welcher mit größtmöglicher Variabilität im einzelnen die höchste Konstanz im Grundsätzlichen erreicht wird, das, was eine bedeutende Biographie wie Goethes »Wahrheit und Dichtung« überhaupt möglich macht. Plutarchs echt antike Biographien sind demgegenüber nur chronologisch, nicht entwicklungsgeschichtlich geordnete Anekdotensammlungen, und man wird zugeben, daß von Alkibiades, Perikles oder überhaupt einem rein

Weitere Kostenlose Bücher