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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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apollinischen Menschen nur die zweite, nicht die erste Art von Biographie denkbar ist. Ihren Erlebnissen fehlt nicht die Masse, sondern die Beziehung; sie haben etwas Atomistisches. Auf das physikalische Weltbild bezogen: der Grieche hat nicht etwa vergessen, in der Summe seiner Erfahrungen allgemeine Gesetze zu suchen; er konnte sie in seinem Kosmos gar nicht finden.
    Es folgt daraus, daß die Wissenschaften der Charakterkunde, vor allem Physiognomik und Graphologie, innerhalb der Antike sehr dürftig ausgefallen sein würden. An Stelle der Handschrift, die wir nicht kennen, beweist es das antike Ornament, das gegenüber dem gotischen – man denke an den Mäander und die Akanthusranke – von einer unglaublichen Simplizität und Schwäche des charakteristischen Ausdrucks, dafür aber von einem nie wieder erreichten Ausgeglichensein in zeitlosem Sinne ist.
    Es versteht sich von selbst, daß wir, dem antiken Lebensgefühl zugewendet, dort ein Grundelement der ethischen Wertung finden müssen, das dem Charakter ebenso entgegengesetzt ist wie die Statue der Fuge, die euklidische Geometrie der Analysis, der Körper im Raum. Es ist die
Geste
. Damit ist das Grundprinzip einer seelischen
Statik
gegeben, und das Wort, welches an Stelle unsrer »Persönlichkeit« in den antiken Sprachen steht, heißt προσωπον,
persona
, nämlich
Rolle, Maske
. Im spätgriechisch-römischen Sprachgebrauch bezeichnet es die
öffentliche Erscheinung und Gebärde
und damit den eigentlichen
Wesenskern des antiken Menschen
. Man sagte von einem Redner, daß er als priesterliches, als soldatisches προσωπον spreche. Der Sklave war απροσωποσ, aber nicht ασωματοσ, d. h. er hatte
keine
als Bestandteil des öffentlichen Lebens in Betracht kommende Haltung, aber eine »
Seele
«. Daß das Schicksal jemandem die Rolle eines Königs oder Feldherrn zuerteilt habe, gibt der Römer durch
persona regis, imperatoris
. [Προσωπον heißt im älteren Griechisch Gesicht, später in Athen Maske. Aristoteles hat das Wort in der Bedeutung »Person« noch nicht gekannt. Erst der juristische Ausdruck
persona
, der ursprünglich – etruskischer Herkunft – die Theatermaske bedeutet, hat in der Kaiserzeit auch dem griechischen προσωπον den prägnanten römischen Sinn gegeben. Vgl. R. Hirzel, Die Person (1914), S. 40 ff.] Darin verrät sich der apollinische Lebensstil. Es handelt sich nicht um die Entfaltung innerer Möglichkeiten durch tätiges Streben, sondern um die jederzeit geschlossene
Haltung
und strengste Anpassung an ein sozusagen plastisches Seinsideal. Nur in der antiken Ethik spielt ein gewisser Begriff der Schönheit eine Rolle. Mag man dies Ideal σωφροσύνη, καλοκἀγαϑία, oder ἀταραξία nennen, es ist immer die wohlgeordnete Gruppe sinnlich greifbarer, durchaus öffentlich erscheinender,
für die andern
, nicht für das eigene Selbst bestimmter Züge. Man war Objekt, nicht Subjekt des äußeren Lebens. Das rein Gegenwärtige, Augenblickliche, der Vordergrund wurde nicht überwunden, sondern herausgearbeitet. Innenleben ist in diesem Zusammenhang ein unmöglicher Begriff. Das unübersetzbare, stets im westeuropäischen Sinne mißverstandene ζῷον πολιτικόν des Aristoteles bezieht sich auf Menschen, die einzeln, einsam, nichts sind, die nur als Mehrzahl etwas bedeuten – was für eine groteske Vorstellung ist ein Athener in der Rolle des Robinson! –, auf der Agora, dem
forum
, wo jeder sich an andern spiegelt und dadurch erst eigentlich Wirklichkeit erhält. Dies alles liegt in dem Ausdruck σώματα πόλεως: die Bürger der Stadt. Man begreift, daß das Porträt, das Probestück der Barockkunst, mit der Darstellung des Menschen identisch ist, insoweit er
Charakter
hat, und daß andrerseits in der attischen Blütezeit die Darstellung des Menschen hinsichtlich seiner
Attitüde,
des Menschen als »
persona
«, in dem Formideal der nackten Statue enden mußte.
5
    Dieser Gegensatz hat zu zwei in jedem Betracht grundverschiedenen Formen der Tragödie geführt. Die faustische, das
Charakterdrama,
und die apollinische, das
Drama der erhabenen Geste,
haben in der Tat nicht mehr als den Namen gemeinsam. [Vgl. Bd. I, S. 170.]
    Die Barockzeit machte, bezeichnenderweise ausschließlich von Seneca und nicht von Aischylos und Sophokles ausgehend [Greizenach, Gesch. d. neueren Dramas II (1918), S. 346 f.] – das entspricht genau der architektonischen Anknüpfung an die

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