Der Untergang des Abendlandes
vorübergehender Bedeutung und »wahr« nur für die westeuropäische Geistesart, verändert den ganzen Sinn dieser Wissenschaften, die nicht allein Subjekte eines systematischen Erkennens, sondern in viel höherem Grade
Objekte einer physiognomischen Betrachtung sind
.
Die Architektur des Barock begann, wie wir sahen, als Michelangelo die tektonischen Elemente der Renaissance, Stütze und Last, durch die dynamischen, Kraft und Masse, ersetzte. Brunellescos Pazzikapelle drückt eine heitere Gelassenheit aus; Vignolas Fassade von Il Gesù ist
steingewordner Wille
. Man hat den neuen Stil in seiner kirchlichen Prägung Jesuitenstil genannt, vor allem nach der Vollendung, die er durch Vignola und Della Porta erfuhr, und in der Tat besteht ein innerer Zusammenhang zwischen ihm und der Schöpfung des Ignaz von Loyola, dessen Orden den reinen, abstrakten Willen der Kirche [Der große Anteil, den gelehrte Jesuiten an der Entwicklung der theoretischen Physik haben, darf nicht übersehen werden. Der Pater Boscovich war der erste, der über Newton hinausgehend ein System der Zentralkräfte schuf (1759). Im Jesuitismus ist die Gleichsetzung Gottes mit dem reinen Raum fühlbarer noch als im Kreise der Jansenisten von Port Royal, dem die Mathematiker Descartes und Pascal nahestanden.] repräsentiert, dessen verborgene, ins Unendliche sich erstreckende Wirksamkeit das Seitenstück zur Analysis und zur Kunst der Fuge ist.
Es wird von nun an nicht mehr als Paradoxon empfunden werden, wenn künftig vom
Barockstil
, ja vom
Jesuitenstil in der Psychologie, Mathematik und theoretischen
Physik die Rede ist. Die Formensprache der Dynamik, welche den energischen Gegensatz von Kapazität und Intensität an Stelle des somatisch-willenlosen von Stoff und Form setzt, ist allen geistigen Schöpfungen dieser Jahrhunderte gemeinsam.
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Es ist nun die Frage, inwiefern der Mensch dieser Kultur selbst erfüllt, was das von ihm geschaffene Seelenbild erwarten läßt. Darf man das Thema der abendländischen Physik jetzt ganz allgemein als den wirkenden Raum bezeichnen, so ist damit auch die Daseinsart, der Daseins
inhalt
des gleichzeitigen Menschen bestimmt. Wir, faustische Naturen, sind gewöhnt, den Einzelnen hinsichtlich seiner
wirkenden
, nicht seiner plastisch-ruhenden Erscheinung ins Ganze unsrer Lebenserfahrung aufzunehmen. Was der Mensch ist, ermessen wir an seiner
Tätigkeit
, die nach innen wie nach außen gewendet sein kann; und alle einzelnen Vorsätze, Gründe, Kräfte, Überzeugungen, Gewohnheiten werten wir durchaus nach dieser Richtung. Das Wort, in dem wir diesen Aspekt zusammenfassen, heißt
Charakter
. Wir sprechen von Charakterköpfen, von Charakterlandschaften. Der Charakter von Ornamenten, Pinselstrichen, Schriftzügen, von ganzen Künsten, Zeitaltern und Kulturen: das sind uns geläufige Wendungen. Die Musik des Barock ist die eigentliche Kunst des Charakteristischen, was von Melodie und Instrumentation gleichmäßig gilt. Auch dies Wort bezeichnet etwas Unbeschreibliches, etwas, das die faustische Kultur aus allen andern heraushebt. Und zwar ist seine tiefe Verwandtschaft mit dem Wort »Wille« unverkennbar: was der Wille im Seelenbild, ist der Charakter im Bilde des Lebens, wie es uns und
nur
uns Westeuropäern mit Selbstverständlichkeit vorschwebt.
Daß der Mensch Charakter habe, ist der Grundanspruch all unsrer ethischen Systeme, so verschieden ihre metaphysischen oder praktischen Formeln sonst lauten mögen. Der Charakter – der sich im
Strome der Welt
bildet, die
»Persönlichkeit«, das Verhältnis des Lebens zur Tat
– ist ein faustischer Eindruck vom Menschen, und es besteht eine bedeutsame Ähnlichkeit mit dem physikalischen Weltbilde darin, daß der vektorielle Kraftbegriff mit seiner Richtungstendenz sich von dem der Bewegung trotz schärfster theoretischer Untersuchungen nicht hat isolieren lassen. Ebenso unmöglich ist die strenge Scheidung von Wille und Seele, Charakter und Leben. Wir empfinden auf der Höhe dieser Kultur, sicherlich seit dem 17. Jahrhundert, das Wort Leben als schlechthin gleichbedeutend mit Wollen. Ausdrücke wie Lebenskraft, Lebenswille, tätige Energie füllen als etwas Selbstverständliches unsre ethische Literatur, während sie in das Griechisch der Zeit des Perikles nicht einmal übersetzbar gewesen wären.
Man bemerkt – was der Anspruch aller Moralen auf zeitliche und räumliche Allgemeingültigkeit bisher verdeckt hat –, daß jede einzelne Kultur als einheitliches Wesen
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