Der Untergang des Abendlandes
Kaiserbauten statt den Tempel von Pästum –, mit steigender Entschiedenheit an Stelle der Begebenheit den Charakter zum Schwerpunkt des Ganzen, zur Mitte gewissermaßen eines seelischen Koordinatensystems, das allen szenischen Tatsachen in bezug auf sich Lage, Bedeutung und Wert zuweist; es entsteht eine
Tragik des Wollens
, der wirkenden Kräfte, der
inneren
, nicht notwendig in Sichtbares umgesetzten Bewegtheit, während Sophokles das unvermeidliche Minimum an Geschehen vor allem durch das Kunstmittel des Botenberichts hinter die Szene verlegt. Die antike Tragik bezieht sich auf allgemeine Lagen, nicht auf besondere Persönlichkeiten; Aristoteles bezeichnet sie ausdrücklich als μίμησις οὐκ ἀνϑρώπον ἀλλὰ πράξεως καὶ βίου. Was er in seiner Poetik, sicherlich dem für unsere Dichtung verhängnisvollsten Buche ἦϑος nennt, nämlich die ideale
Haltung
eines ideal hellenischen Menschen in einer schmerzlichen Lage, hat mit unserm Begriff Charakter als einer die Ereignisse bestimmenden Beschaffenheit des Ich so wenig zu tun wie eine Fläche in Euklids Geometrie mit dem gleichnamigen Gebilde etwa in Riemanns Theorie der algebraischen Gleichungen. Daß man ἦϑος mit Charakter übersetzte, statt das kaum exakt Wiederzugebende durch Rolle, Haltung, Geste zu umschreiben, daß man μῦϑος, die
zeitlose Begebenheit
, durch Handlung wiedergab, ist auf Jahrhunderte hin ebenso verderblich geworden wie die Ableitung des Wortes δρᾶμα von Tun. Othello, Don Quijote, der Misanthrop, Werther, Hedda Gabler sind Charaktere. Das Tragische liegt
im bloßen Dasein
so gearteter Menschen inmitten ihrer Welt. Ob gegen diese Welt, gegen sich, gegen andre: der Kampf wird durch den Charakter, nicht durch etwas von außen Kommendes aufgezwungen. Es ist
Fügung
, die Einfügung einer Seele in einen Zusammenhang widersprechender Beziehungen, der keine reine Auflösung gestattet. Antike Bühnengestalten aber sind Rollen, keine Charaktere. Auf der Szene erscheinen immer dieselben Figuren, der Greis, der Heros, der Mörder, der Liebende, stets dieselben schwer beweglichen, auf dem Kothurn schreitenden, maskierten Körper. Deshalb war die Maske im antiken Drama auch der Spätzeit eine tief symbolische
innere Notwendigkeit
, während unsere Stücke ohne das Mienenspiel der Darsteller eben nicht »dargestellt« wären. Man wende ja nicht die Größe der griechischen Theater ein; auch die Gelegenheitsmimen trugen Masken –
auch die Bildnisstatuen
–, und wäre das tiefere Bedürfnis nach intimen Räumen dagewesen, so hätte sich die architektonische Form von selbst gefunden.
Die in bezug auf einen
Charakter
tragischen Begebenheiten folgen aus einer langen inneren Entwicklung. In den tragischen Fällen des Aias, des Philoktet, der Antigone und Elektra aber ist eine innere Vorgeschichte – selbst wenn sie in einem antiken Menschen anzutreffen wäre – für die Folgen gleichgültig. Das entscheidende Ereignis überfällt sie, unvermittelt, ganz zufällig und äußerlich, und hätte an ihrer Stelle jeden andern und mit der gleichen Wirkung überfallen können. Es brauchte nicht einmal ein Mensch gleichen Geschlechts zu sein.
Es kennzeichnet den Gegensatz antiker und abendländischer Tragik noch nicht scharf genug, wenn man nur von Handlung oder Ereignis redet. Die faustische Tragödie ist
biographisch
, die apollinische ist
anekdotisch
, das heißt, jene umfaßt das Gerichtetsein eines ganzen Lebens, diese den für sich stehenden Augenblick; denn welche Beziehung hat die gesamte
innere
Vergangenheit des Ödipus oder Orest zu dem vernichtenden Ereignis, das ihnen plötzlich in den Weg tritt? Der Anekdote antiken Stils gegenüber kennen wir den Typus der
charakteristischen
, persönlichen, antimythischen Anekdote – es ist die
Novelle
, deren Meister Cervantes, Kleist, Hoffmann, Storm sind –, die um so bedeutender ist, je mehr man fühlt, daß ihr Motiv
nur einmal
und nur zu
dieser
Zeit und unter
diesen
Menschen möglich war, während der Rang der mythischen Anekdote – der
Fabel
– durch die Reinheit der gegenteiligen Eigenschaften bestimmt wird. Wir haben da also ein Schicksal, das wie der Blitz trifft, gleichgültig wen, und ein andres, das sich wie ein unsichtbarer Faden durch ein Leben spinnt und dieses eine vor allen andern auszeichnet. Es gibt im vergangenen Dasein Othellos, diesem Meisterstück einer psychologischen Analyse, nicht den geringsten Zug, der ganz ohne Beziehung zur
Weitere Kostenlose Bücher