Der Untergang des Abendlandes
Kultur besitzt ihren
eignen
Begriff von Heimat und Vaterland, schwer greifbar, kaum in Worte zu fassen, voller dunkler metaphysischer Beziehungen, aber trotzdem von unzweideutiger Tendenz. Das antike Heimatgefühl, das den einzelnen ganz leibhaft und euklidisch an die Polis band, steht hier jenem rätselhaften Heimweh des Nordländers gegenüber, das etwas Musikhaftes, Schweifendes und Unirdisches hat. Der antike Mensch empfindet als Heimat nur, was er von der Burg seiner Vaterstadt aus übersehen kann. Wo der Horizont von Athen endet, beginnt die Fremde, der Feind, das »Vaterland« der andern. Der Römer selbst der letzten republikanischen Zeit hat unter
patria
niemals Italien, auch nicht Latium, stets nur die Urbs Roma verstanden. Die antike Welt löst sich mit steigender Reife in eine Unzahl vaterländischer Punkte auf, unter denen ein körperliches Absonderungsbedürfnis in Gestalt eines Hasses besteht, der den Barbaren gegenüber nie in dieser Stärke zum Vorschein kommt; und nichts kann das endgültige Erlöschen des antiken und den Sieg des magischen Weltgefühls nach dieser Seite hin schärfer kennzeichnen als die Verleihung des römischen Bürgerrechts an alle Provinzialen durch Caracalla (212) [Vgl. Bd. II, S. 636.] Damit war der antike, statuenhafte Begriff des Bürgers aufgehoben. Es gab ein »Reich«, es gab folglich auch eine neue Art von Zugehörigkeit. Bezeichnend ist der entsprechende römische Begriff des Heeres. Es gab in echt antiker Zeit kein »römisches Heer«, wie man vom preußischen Heere spricht; es gab nur
Heere
, d. h. durch Ernennung eines Legaten als solche, als begrenzte und sichtbar-gegenwärtige Körper bestimmte Truppenteile (»Truppenkörper«), einen
exercitus Scipionis, Crassi
, aber keinen
exercitus Romanus
. Erst Caracalla, der durch den erwähnten Erlaß den Begriff des
civis Romanus
tatsächlich aufhob, der die römische Staatsreligion durch Gleichsetzung der städtischen Gottheiten mit allen fremden auslöschte, hat auch den – unantiken,
magischen
– Begriff des
kaiserlichen Heeres
geschaffen, das durch die einzelnen Legionen in
Erscheinung tritt
, während altrömische Heere nichts
bedeuten
, sondern ausschließlich etwas
sind
. Von nun an ändert sich auf den Inschriften der Ausdruck
fides exercituum
in
fides exercitus
; an Stelle körperlich empfundener Einzelgottheiten (der Treue, des Glücks der Legion), denen der Legat opferte, war ein allgemein geistiges Prinzip getreten. Dieser Bedeutungswandel hat sich auch im Vaterlandsgefühl des östlichen Menschen der Kaiserzeit –
nicht nur des Christen
– vollzogen. Heimat ist dem apollinischen Menschen, solange ein Rest seines Weltgefühls wirksam ist, im ganz eigentlichen, körperhaften Sinne der Boden, auf dem seine Stadt erbaut ist. Man wird sich hier der »Einheit des Ortes« attischer Tragödien und Statuen erinnern. Dem magischen Menschen, dem Christen, Perser, Juden, »Griechen«, [Das heißt Anhänger der synkretistischen Kulte, vgl. Bd. II, S. 769.] Manichäer, Nestorianer, Islamiten ist sie nichts, was mit geographischen Wirklichkeiten zusammenhängt.
Uns
ist sie eine ungreifbare Einheit von Natur, Sprache, Klima, Sitte, Geschichte; nicht Erde, sondern »Land«, nicht punktförmige Gegenwart, sondern geschichtliche Vergangenheit und Zukunft, nicht eine Einheit von Menschen, Göttern und Häusern, sondern eine Idee, die sich mit rastloser Wanderschaft, mit tiefster Einsamkeit und mit jener urdeutschen Sehnsucht nach dem Süden verträgt, an der von den Sachsenkaisern bis auf Hölderlin und Nietzsche die Besten zugrunde gegangen sind.
Die faustische Kultur war deshalb im stärksten Maße auf
Ausdehnung
gerichtet, sei sie politischer, wirtschaftlicher oder geistiger Natur; sie überwand alle geographisch-stofflichen Schranken; sie suchte ohne jeden praktischen Zweck, nur um des Symbols willen, Nord- und Südpol zu erreichen; sie hat zuletzt die Erdoberfläche in ein einziges Kolonialgebiet und Wirtschaftssystem verwandelt. Was von Meister Eckart bis auf Kant alle Denker wollten, die Welt »als Erscheinung« den Machtansprüchen des erkennenden Ich unterwerfen, das taten von Otto dem Großen bis auf Napoleon alle Führer. Das Grenzenlose war das
eigentliche
Ziel ihres Ehrgeizes, die Weltmonarchie der großen Salier und Staufer, die Pläne Gregors VII. und Innocenz' III., jenes Reich der spanischen Habsburger, »in dem die Sonne nicht unterging«, und der Imperialismus, um den heute der noch lange nicht beendigte
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