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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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rotrückige Würger (
Lanius collurio
) imitiert die Strophen kleiner Singvögel, um sie anzulocken. Das ist eine allverbreitete Jägerlist, aber sie setzt feste Motive und Zeichen ebenso voraus wie die Nachahmung alter Kunststile oder die Fälschung einer Unterschrift. Und alle diese Züge, die man in Haltung und Mienenspiel so gut wie in Handschrift und Aussprache antrifft, kehren in der Sprache jeder Religion, jeder Kunst, jeder Gesellschaft wieder. Es sei nur an die Begriffe des Heuchlers, Frömmlers, Ketzers, den englischen
cant
, an den Hintersinn der Worte Diplomat, Jesuit und Schauspieler, an die Masken und Klugheiten des gebildeten Verkehrs und an die heutige Malerei erinnert, in der nichts mehr echt ist und die in jeder Ausstellung alle überhaupt denkbaren Formen der Lüge im Ausdruck vor Augen führt.
    In einer Sprache, die man stammelt, kann man nicht Diplomat sein. In ihrer Beherrschung liegt aber die Gefahr, das Verhältnis zwischen Mittel und Bedeutung zu einem neuen Mittel zu machen. Es entsteht die geistige Kunst, mit dem Ausdruck zu
spielen
. Die Alexandriner und Romantiker gehören dahin, in der Lyrik Theokrit und Brentano, in der Musik Reger, in der Religion Kierkegaard.
    Sprache und Wahrheit schließen sich zuletzt aus
. [»Jede Form, auch die gefühlteste, hat etwas Unwahres« (Goethe). In der systematischen Philosophie deckt sich die Absicht des Denkers weder mit den geschriebenen Worten, noch mit dem Verstehen der Leser, noch, da es ein Denken in Wortbedeutungen ist, im Verlauf der Darstellung mit sich selbst.] Aber gerade damit kommt im Zeitalter der starren Sprachen der Typus des Menschenkenners zur Geltung, der ganz Rasse ist und weiß, was er von einem sprechenden Wesen zu halten hat. Jemandem scharf ins Auge sehen, hinter der Sprache einer Volksrede oder philosophischen Abhandlung den Sprecher, hinter dem Gebet das Herz, hinter dem guten Ton den inneren gesellschaftlichen Rang erkennen und zwar sofort, unmittelbar, mit der Selbstverständlichkeit alles Kosmischen, das ist es, was dem echten Tabumenschen abgeht, der an
eine
Sprache wenigstens glaubt. Ein Priester, der zugleich Diplomat ist, kann kein echter Priester sein. Ein Ethiker vom Schlage Kants ist niemals Menschenkenner. Wer in seiner Wortsprache lügt, verrät sich in seiner Gebärdensprache, auf die er nicht achtet. Wer in den Gebärden heuchelt, verrät sich im Ton. Gerade weil die starre Sprache Mittel und Absicht trennt, erreicht sie ihr Ziel für den Kennerblick niemals. Wer Kenner ist, liest zwischen den Zeilen und versteht einen Menschen, sobald er seinen Gang oder seine Handschrift sieht. Je tiefer und inniger eine Seelengemeinschaft ist, desto eher verzichtet sie deshalb auf Zeichen, auf eine Verbindung durch das Wachsein. Eine echte Kameradschaft versteht sich ohne viel Worte, der echte Glaube schweigt. Das reinste Sinnbild für ein Einverständnis, welches die Sprache wieder überwunden hat, ist ein altes bäuerliches Ehepaar, das abends vor dem Hause sitzt und sich schweigend unterhält. Jeder weiß, was der andere denkt und fühlt. Worte würden den Einklang nur verwirren. Von diesem Sichverstehen reicht irgend etwas tief in die Urgeschichte alles freibeweglichen Lebens, weit zurück über das Gemeinschaftsleben der höheren Tierwelt. Hier ist die Erlösung vom Wachsein für Augenblicke fast erreicht.
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    Unter allen starren Zeichen ist keines folgenreicher geworden als das, welches wir in seinem heutigen Zustand »Wort« nennen. Es gehört ohne Zweifel der rein menschlichen Sprachgeschichte an, aber die Vorstellung »Ursprung der Wortsprache« ist, so wie sie regelmäßig durchdacht und behandelt wird, mit allen daran geknüpften Folgerungen ebenso sinnlos wie die Vorstellung von einem Anfangspunkt der Sprache überhaupt. Diese besitzt keinen denkbaren Anfang, weil sie mit dem Wesen des Mikrokosmos zugleich gegeben und in ihm enthalten ist, jene nicht, weil sie sehr vollkommene Mitteilungssprachen schon voraussetzt, in deren ruhig fortentwickelter Gestalt sie nur den Rang eines Einzelzuges hat, der sehr langsam das Übergewicht erhält. Es ist der gleiche Fehler so entgegengesetzter Theorien wie derjenigen Wundts und Jespersens, [Der die Sprache aus Poesie, Tanz und besonders der Liebeswerbung ableitet. Progress in language (1894), S. 357.] daß sie das Sprechen in Worten wie etwas ganz Neues und Fürsichstehendes untersuchen, was notwendig zu einer durchaus falschen Deutung führt. Es ist aber etwas sehr Spätes

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