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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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höheren Sinne hat den Schriftverkehr zur Voraussetzung; der Stil aller Politik ist durch die jeweilige Bedeutung der Urkunde, des Archivs, der Unterschrift, der Publizistik im politisch-geschichtlichen Denken eines Volkes schlechthin bestimmt; der Kampf um das Recht ist ein Kampf für oder gegen ein geschriebenes Recht; Verfassungen ersetzen die materielle Gewalt durch die Fassung von Paragraphen und erheben das Schriftstück zu einer Waffe. Sprache und Gegenwart, Schrift und Dauer gehören zusammen, aber mündliche Verständigung und praktische Erfahrung, Schrift und theoretisches Denken tun es nicht weniger. Man kann den größten Teil der innerpolitischen Geschichte aller Spätzeiten auf diesen Gegensatz zurückführen. Die ewig wechselnden Tatsachen widerstreben der Schrift, die
Wahrheiten fordern sie
– das ist der welthistorische Gegensatz zweier Parteien, die in irgendeiner Form in den großen Krisen aller Kulturen vorhanden sind. Die eine lebt in der Wirklichkeit, die andere hält ihr eine Schrift entgegen; alle großen Revolutionen setzen eine Literatur voraus.
    Die Gruppe der abendländischen Kultursprachen tritt im zehnten Jahrhundert in Erscheinung. Die vorhandenen Sprachkörper, nämlich die germanischen und romanischen Mundarten, das klösterliche Latein einbegriffen, werden aus einheitlichem Geiste zu Schriftsprachen ausgebildet. Es
muß
in der Entwicklung des Deutschen, Englischen, Italienischen, Französischen, Spanischen von 900 bis 1900 einen gemeinsamen Zug geben und ebenso in der Geschichte der hellenischen und italischen Sprachen einschließlich des Etruskischen von 1100 an bis zur Kaiserzeit. Aber was ist hier, unabhängig vom Verbreitungsgebiet der Sprachfamilien und der Rassen, allein durch die
landschaftlichen Grenzen der Kultur
zusammengefaßt? Welche Veränderungen haben das Hellenistische und das Latein seit 300 gemeinsam, und zwar in der Aussprache, im Wortgebrauch, metrisch, grammatisch, stilistisch, welche das Deutsche und Italienische seit 1000, das Italienische und Rumänische aber nicht? Dergleichen ist noch nie planmäßig untersucht worden.
    Jede Kultur findet bei ihrem Erwachen
Bauernsprachen
vor, Sprachen des stadtlosen Landes, die »ewig«, an den Ereignissen der großen Geschichte kaum beteiligt, als schriftlose Dialekte noch durch Spätzeit und Zivilisation gehen und langsame unbemerkte Verwandlungen erleiden. Darüber erhebt sich nun die Sprache der beiden Urstände als die erste Erscheinung einer Wachseinsbeziehung, die Kultur
hat
, Kultur
ist
. Hier im Kreise von Adel und Priestertum werden Sprachen zu Kultursprachen, und zwar gehört
das Sprechen zur Burg, die Sprache zum Dom
: so scheidet sich an der Schwelle der Entwicklung das Pflanzenhafte vom Tierhaften, das Schicksal der lebendigen von dem der toten, das der organischen von dem der mechanischen Seite der Verständigung. Denn die Totemseite bejaht, die Tabuseite verneint das Blut und die Zeit. Da finden sich überall schon ganz früh die starren Kultsprachen, deren Heiligkeit durch ihre Unveränderlichkeit verbürgt ist, zeitlose, längst abgestorbene oder dem Leben entfremdete und künstlich gelähmte Systeme mit einem streng festgehaltenen Wortschatz, wie er zur Fassung ewiger Wahrheiten Bedingung ist. So ist das Altvedische als religiöse und daneben das Sanskrit als Gelehrtensprache erstarrt. Das Ägyptische des Alten Reiches wurde dauernd als Priestersprache festgehalten, so daß die heiligen Formeln im Neuen Reiche ebensowenig mehr verstanden worden sind wie das
Carmen Saliare
und das Arvalbrüderlied zur Zeit des Augustus. [Deshalb glaube ich auch, daß das Etruskische in den römischen Priesterkollegien noch sehr spät eine bedeutende Rolle gespielt hat.] In der Vorzeit der arabischen Kultur sind das Babylonische, Hebräische und Awestische gleichzeitig als Umgangssprachen abgestorben – wahrscheinlich während des zweiten Jahrhunderts v. Chr. – aber eben deshalb wurden sie in den heiligen Schriften der Chaldäer, Juden und Perser dem Aramäischen und dem Pehlewi entgegengestellt. Dieselbe Bedeutung hatte das gotische Latein für die Kirche, das Humanistenlatein für die Gelehrsamkeit des Barock, das Kirchenslawisch in Rußland und wohl auch das Sumerische in Babylon.
    Im Gegensatz dazu ist die Pflege des Sprechens an den frühen Höfen und Pfalzen zu Hause. Hier sind die
lebendigen
Kultursprachen ausgebildet worden. Sprechen ist Sprachsitte, Sprachzucht, der gute Ton in Lautbildung und Wendungen, der

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