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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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Volkstums zu Rasse, Sprache, Land, Staat, Religion bestimmt. Wie die Seele altchinesischer und antiker Völker, so unterscheidet sich auch der Stil chinesischer und antiker Geschichte.
    Was Urvölker und Fellachenvölker erleben, ist jenes oft genannte zoologische Auf und Nieder, ein planloses Geschehen, bei dem ohne Ziel und ohne bemessene Dauer sich sehr vieles und in einem bedeutenden Sinne zuletzt doch nichts ereignet. Historische Völker, Völker, deren Dasein
Weltgeschichte
ist, sind allein die Nationen. Man verstehe wohl, was das bedeuten will. Die Ostgoten erlitten ein großes Schicksal und hatten – innerlich – doch keine Geschichte. Ihre Schlachten und Siedelungen waren ohne Notwendigkeit und deshalb episodisch. Ihr Ende war bedeutungslos. Was um 1500 in Mykene und Tiryns lebte, war
noch
keine Nation, im minoischen Kreta war man es
nicht mehr
. Tiberius war der letzte Herrscher, der eine römische
Nation
geschichtlich weiter zu führen, sie für die Geschichte zu
retten
suchte, Marc Aurel hat nur noch eine romanische Bevölkerung verteidigt, für die es wohl Begebenheiten, aber keine Geschichte mehr gab. Wieviele Generationen hindurch ein medisches oder achäisches oder Hunnenvolk bestand, in was für Volksverbänden die vorhergehenden und nachfolgenden Geschlechter lebten, ist unbestimmbar und von keiner Regel abhängig. Die Lebensdauer einer Nation aber
ist
bestimmt, und ebenso der Schritt und Takt, in welchem ihre Geschichte sich erfüllt. Die Zahl der Generationen vom Beginn der Dschou-Dynastie bis zur Regierung des Schi Hoang-ti, von den Ereignissen, welche der trojanischen Sage zugrunde liegen, bis auf Augustus, von der Thinitenzeit bis zur 18. Dynastie ist etwa dieselbe. Die Spätzeit der Kulturen, von Solon bis Alexander, von Luther bis Napoleon umfaßt etwa zehn Generationen, nicht mehr. In solchen Abmessungen vollziehen sich die Schicksale echter Kulturvölker und damit die der Weltgeschichte überhaupt. Die Römer, die Araber, die Preußen sind spätgeborene Nationen. Wieviele Generationen der Fabier und Junier hatten zur Zeit von Cannä schon
als Römer
gelebt?
    Nationen sind aber auch
die eigentlich städtebauenden
Völker. In den Burgen sind sie entstanden, mit den Städten reifen sie zur vollen Höhe ihres Weltbewußtseins und ihrer Bestimmung heran, in den Weltstädten erlöschen sie. Jedes Stadtbild, das Charakter hat, hat auch nationalen Charakter. Das ganz rassemäßige Dorf besitzt ihn noch nicht, die Weltstadt nicht mehr. Man kann sich diesen Wesenszug, der das gesamte öffentliche Dasein einer Nation in eine gewisse Farbe taucht und noch die geringste Äußerung zum Kennzeichen erhebt, nicht stark, nicht selbständig, nicht
einsam
genug denken. Wenn zwischen den Seelen zweier Kulturen eine undurchdringliche Scheidewand liegt, so daß kein Mensch des Abendlandes hoffen darf, den Inder oder Chinesen ganz zu verstehen, so gilt das auch, und zwar im höchsten Grade, von ausgebildeten Nationen. Nationen verstehen sich so wenig wie einzelne Menschen. Jede versteht nur ein selbstgeschaffenes Bild der andern, und wenige ganz vereinzelte Kenner dringen tiefer. Den Ägyptern gegenüber mußten alle antiken Völker sich verwandt und als Ganzes fühlen; untereinander haben sie sich nie begriffen. Gibt es einen schrofferen Gegensatz als den von athenischem und spartanischem Geiste? Es gibt nicht erst seit Bacon, Descartes und Leibniz, sondern schon in der Scholastik eine deutsche, französische und englische Art, philosophisch zu denken, und noch in der modernen Physik und Chemie sind die wissenschaftlichen Methoden, die Auswahl und Art der Experimente und Hypothesen, ihr gegenseitiges Verhältnis und ihre Bedeutung für Gang und Ziel der Forschung für jede Nation merklich verschieden. Deutsche und französische Frömmigkeit, englische und spanische Sitte, deutsche und englische Lebensgewohnheiten stehen sich so fern, daß das Innerste jeder fremden Nation für den Durchschnittsmenschen und damit die öffentliche Meinung der eigenen ein ständiges Geheimnis und die Quelle beständiger, folgenschwerer Irrtümer bleibt. In der römischen Kaiserzeit beginnt man sich allenthalben zu verstehen, aber eben deshalb gibt es nichts mehr, was in antiken Städten zu verstehen sich noch lohnte. Mit dem Sichverstehen-können hatte diese Menschheit aufgehört, in Nationen zu leben;
damit hat sie aufgehört, historisch zu sein
. [Vgl. Bd. II, S. 681 ff.] Gerade der Tiefe dieser Erlebnisse wegen ist es

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