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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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unmöglich, daß ein ganzes Volk
gleichmäßig
ein Kulturvolk, eine Nation ist. In Urvölkern hat jeder einzelne Mann das gleiche Gefühl volksmäßiger Verbundenheit. Das Erwachen einer Nation zum Bewußtsein ihrer selbst erfolgt aber ohne Ausnahme in Stufungen und also vornehmlich in einem einzelnen Stande, dessen Seele die stärkste ist und die der übrigen durch die Macht ihres Erlebens im Banne hält.
Jede Nation wird vor der Geschichte durch eine Minderheit repräsentiert.
Zu Beginn der Frühzeit ist es der erst hier und zwar als die Blüte des Volkstums entstehende Adel,
[Vgl. Bd. II, Kap. IV, I.]
in dessen Kreise der nicht bewußte, aber in seinem kosmischen Takt um so mächtiger gefühlte Nationalcharakter großen Stil erhält. Das »Wir« ist die Ritterschaft, in der ägyptischen Feudalzeit von 2700 so gut wie der indischen und chinesischen von 1200. Die homerischen Helden sind »die« Danaer. Die normannischen Barone sind England. Noch der etwas altfränkische Herzog von Saint Simon pflegte zu sagen »Ganz Frankreich war im Vorzimmer versammelt«, und es gab eine Zeit, wo Rom und der Senat wirklich dasselbe waren. Mit den Städten wird das Bürgertum Träger des Nationalen, und zwar, der wachsenden Geistigkeit entsprechend, eines National
bewußtseins
, das es vom Adel empfängt und zur Vollendung führt. Es sind immer und immer wieder einzelne Kreise in zahllosen Abstufungen, die
im Namen
des Volkes leben, fühlen, handeln und zu sterben wissen, aber diese Kreise werden größer; im 18. Jahrhundert ist der abendländische
Begriff
der Nation entstanden, der den Anspruch erhob und unter Umständen energisch verfolgte, von jedem ohne Ausnahme vertreten zu werden. In Wirklichkeit waren, wie man weiß, die Emigranten so gut wie die Jakobiner überzeugt,
das
Volk,
die Repräsentanten
der französischen Nation zu sein. Ein Kulturvolk, das mit »allen« zusammenfällt, gibt es nicht. Nur unter Urvölkern und Fellachenvölkern, nur in einem Völkerdasein ohne Tiefe und ohne historischen Rang ist das möglich. Solange ein Volk Nation ist, das Schicksal einer Nation erfüllt, gibt es in ihm eine Minderheit, die im Namen aller seine Geschichte vertritt und vollzieht.
18
    Die antiken Nationen sind, wie es der statisch-euklidischen Seele ihrer Kultur entspricht, denkbar kleinste körperhafte Einheiten. Nicht Hellenen oder Ionier sind Nationen, sondern der Demos jeder einzelnen Stadt, ein Verband erwachsener Männer, der nach oben gegen den Typus des Heros, nach unten gegen den Sklaven rechtlich
und damit national
abgegrenzt ist. [Vgl. Bd. II, S. 625 f. Der Sklave gehört nicht zur Nation. Die Einstellung von Nichtbürgern in das Heer einer Stadt, die in Zeiten der Not unvermeidlich wurde, ist deshalb auch immer als Erschütterung des nationalen Gedankens empfunden worden.] Der Synoikismos, jener rätselhafte Vorgang der Frühzeit, bei welchem die Bewohner einer Landschaft ihre Dörfer aufgeben und sich zu einer Stadt vereinigen, ist der Augenblick, wo die zum Selbstbewußtsein gelangte antike Nation sich als solche konstituiert. Es läßt sich noch verfolgen, wie von homerischer Zeit [Schon die Ilias verrät den Hang, sich im Kleinen und Kleinsten als Volk zu fühlen.] an bis zur Epoche der großen Kolonialgründungen diese Form der Nation sich durchsetzt. Sie entspricht durchaus dem antiken Ursymbol: jedes Volk war ein sichtbarer
und übersehbarer
Körper, ein σωμα, das den Begriff des geographischen Raumes entschieden verneint.
    Es ist für die antike Geschichte gleichgültig, ob die Etrusker in Italien leiblich oder sprachlich mit den Trägern dieses Namens unter den Seevölkern identisch sind, oder was für ein Verhältnis zwischen den vorhomerischen Einheiten der Pelasger oder Danaer und den späteren Trägern des dorischen oder hellenischen Namens bestand. Wenn es um 1100 vielleicht ein dorisches und etruskisches Urvolk gegeben hat,
so gab es doch niemals eine dorische oder etruskische Nation
. In Toskana wie im Peloponnes bestanden nur Stadtstaaten,
nationale Punkte
, die sich in der Kolonialzeit durch Siedlungen
vermehren, aber nicht erweitern konnten
. Die Etruskerkriege der Römer sind stets gegen eine oder mehrere Städte geführt worden und weder die Perser noch die Karthager haben eine andere Art von »Nation« vor sich gehabt. Es ist völlig falsch, in der gewohnten Art, welche heute noch die des 18. Jahrhunderts ist, »von Griechen und Römern« zu reden. Ein griechisches »Volk« in unserem Sinne

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