Der Untergang des Abendlandes
Bevölkerung in Gruppen zusammenfassen, während deren Menschenschlag sich kaum verändert. Eine solche Schichtenfolge führt von den Kimbern und Teutonen über die Markomannen und Goten zu den Franken, Langobarden und Sachsen. Urvölker sind die Juden und Perser der Seleukidenzeit, die »Seevölker« der mykenischen Zeit, die ägyptischen »Gaue« zur Zeit des Menes. Was einer Kultur folgt, nenne ich
Fellachenvölker
nach ihrem berühmtesten Beispiel, den Ägyptern seit der Römerzeit.
Im 10. Jahrhundert erwacht plötzlich die faustische Seele und offenbart sich in zahllosen Gestalten. Unter diesen, neben Ornament und Architektur, erscheint eine deutlich ausgeprägte Völkerform. Aus den Volksgebilden des Karolingerreiches, den Sachsen, Schwaben, Franken, Westgoten, Langobarden sind plötzlich die Deutschen, Franzosen, Spanier, Italiener entstanden. Die gesamte bisherige Geschichtsforschung hat, ob sie es wußte und beabsichtigte oder nicht, diese Kulturvölker als etwas an sich Vorhandenes und Primäres aufgefaßt und die Kultur selbst als sekundär, als ihr Erzeugnis behandelt. Die Inder, die Griechen, die Römer, die Germanen galten als die schlechthin schöpferischen Einheiten der Geschichte. Die griechische Kultur war das Werk der Hellenen, und diese mußten demnach als solche schon viel früher vorhanden gewesen, also eingewandert sein. Eine andere Vorstellung von Schöpfer und Schöpfung erschien nicht denkbar.
Ich betrachte es als eine entscheidende Entdeckung, daß aus den hier vorgelegten Tatsachen das Umgekehrte folgt. Mit aller Schärfe soll festgestellt werden: die großen Kulturen sind etwas ganz Ursprüngliches und aus den tiefsten Gründen des Seelentums Aufsteigendes. Völker im Banne einer Kultur dagegen sind in ihrer inneren Form, ihrer ganzen Erscheinung nach nicht Urheber, sondern
Werke
dieser Kultur. Diese Gebilde, in welchen das Menschentum wie ein Stoff gefaßt und gestaltet wird, haben Stil und eine Stilgeschichte ganz wie Kunstgattungen und Denkweisen. Das Volk von Athen ist nicht weniger wie der dorische Tempel, der Engländer nicht weniger wie die moderne Physik ein Symbol. Es gibt Völker apollinischen, faustischen und magischen Stils. »Die Araber« haben die arabische Kultur
nicht
geschaffen. Die magische Kultur, zur Zeit Christi beginnend, hat vielmehr als ihre letzte große Völkerschöpfung das arabische Volk hervorgebracht, das wie das jüdische und persische eine Glaubensgemeinschaft, die des Islam, darstellt. Weltgeschichte ist die Geschichte der großen Kulturen. Und Völker sind nur die sinnbildlichen Formen, in welche zusammengefaßt der Mensch dieser Kulturen sein Schicksal erfüllt.
In jeder dieser Kulturen, der mexikanischen wie der chinesischen, der indischen wie der ägyptischen – ob unser Wissen dahin reicht oder nicht – gibt es
eine Gruppe großer Völker von ein und demselben Stil
, die am Eingang der Frühzeit entsteht und die, Staaten bildend und Geschichte tragend, im ganzen Lauf der Entwicklung auch die ihr zugrunde liegende Form einem Ziel entgegenführt. Sie sind untereinander höchst verschieden. Es scheint kein stärkerer Gegensatz denkbar als der zwischen Athenern und Spartanern, Deutschen und Franzosen, Tsin und Tsu, und die gesamte Kriegsgeschichte kennt den nationalen Haß als das vornehmste Mittel, historische Entscheidungen einzuleiten, aber sobald ein kultur
fremdes
Volk in den Gesichtskreis tritt, erwacht allenthalben ein übermächtiges Gefühl der seelischen Verwandtschaft, und der Begriff des Barbaren als des Menschen, der einer Kultur innerlich
nicht
angehört, ist unter den ägyptischen Gauvölkern und in der chinesischen Staatenwelt ebenso scharf ausgeprägt wie in der Antike. Die Energie der Form ist so stark, daß sie Nachbarvölker ergreift und umprägt – so stehen die Karthager als Volk halbantiken Stils in der römischen und die Russen als Volk halbabendländischen Stils in unserer Geschichte von der großen Katharina an bis zum Untergang des petrinischen Zarentums.
Völker im Stil einer Kultur nenne ich
Nationen
und unterscheide sie schon durch das Wort von den Gebilden vorher und nachher. Es ist nicht nur ein starkes Gefühl des »Wir«, das diese bedeutsamsten aller großen Verbände innerlich zusammenschließt. Der
Nation liegt eine Idee zugrunde
. Diese Ströme eines Gesamtdaseins besitzen ein sehr tiefes Verhältnis zum Schicksal, zur Zeit und zur Geschichte, das in jedem einzelnen Falle anders ist und auch die Beziehung des
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