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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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ist ein Mißverständnis; die Griechen haben diesen Begriff überhaupt nie gekannt. Der Hellenenname, der um 650 aufkam, bezeichnet kein Volk, sondern den Inbegriff antiker Kulturmenschen, die
Summe
der Nationen, [Man sollte doch beachten, daß weder Plato noch Aristoteles in ihren politischen Schriften sich das ideale Volk anders als in der Polisform denken können; aber ebenso natürlich ist es, daß die Denker des 18. Jahrhunderts auch »die Alten« als Nationen im Geschmack Shaftesburys und Montesquieus sahen; nur sollten wir darüber hinaus sein.] im Gegensatz zum Barbarentum; und die Römer, ein echtes Stadtvolk, haben ihr Reich nicht anders »denken« können als in der Form zahlloser nationaler Punkte, der
civitates
, in welche sie alle Urvölker ihres Imperiums denn auch rechtlich aufgelöst haben. In dem Augenblick, wo das Nationalgefühl in
dieser
Gestalt erlosch, ist es auch mit der antiken Geschichte zu Ende.
    Es wird zu den schwierigsten Aufgaben künftiger Geschichtsforschung gehören, in den Ostländern des Mittelmeeres von einer Generation zur andern zu verfolgen, wie in antiker Spätzeit die antiken Nationen unvermerkt verlöschen, während das magische Nationalgefühl sich immer mächtiger durchsetzt.
    Eine Nation magischen Stils ist die Gemeinschaft der Bekenner, der Verband aller, welche den rechten Weg zum Heil kennen und durch das
idjma
[Vgl. Bd. II, S. 635 f.] dieses Glaubens innerlich verbunden sind. Einer antiken Nation gehört man durch den Besitz des Bürgerrechts an, einer magischen durch einen sakramentalen Akt, der jüdischen durch die Beschneidung, der mandäischen oder christlichen durch eine ganz bestimmte Art der Taufe. Was für ein antikes Volk der Bürger einer fremden Stadt, ist für ein magisches der Ungläubige. Mit ihm gibt es keinen Verkehr und keine Ehegemeinschaft, und diese nationale Abgeschlossenheit geht so weit, daß sich in Palästina ein jüdisch-aramäischer und ein christlich-aramäischer Dialekt nebeneinander ausgebildet haben. [F. N. Finck, Die Sprachstämme des Erdkreises (1915), S. 29.] Wenn eine faustische Nation wohl mit einer gewissen Art von Religiosität, aber nicht mit einem Bekenntnis notwendig verbunden ist, wenn eine antike überhaupt keine ausschließlichen Beziehungen zu einzelnen Kulten besitzt,
so fällt die magische Nation mit dem Begriff der Kirche schlechthin zusammen.
Die antike ist mit einer Stadt, die abendländische mit einer Landschaft innerlich verbunden, die arabische kennt weder ein Vaterland noch eine Muttersprache. Ein Ausdruck ihres Weltgefühls ist lediglich die Schrift, deren jede »Nation« gleich nach ihrer Entstehung eine eigene entwickelt. Aber gerade deshalb ist das im vollsten Sinne des Wortes
magische
Nationalgefühl ein so innerliches und festes, daß es auf uns faustische Menschen, welche den Begriff der Heimat vermissen, völlig rätselhaft und unheimlich wirkt. Dieser schweigende und selbstverständliche Zusammenhalt, z. B. noch der heutigen Juden unter ihren abendländischen Wirtsvölkern, ist in das
von Aramäern behandelte
»klassische« römische Recht als Begriff der juristischen Person eingegangen, [Wohl gegen Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. Vgl. Bd. II, S. 634 ff.] die nichts anderes bedeuten will als eine magische Gemeinschaft. Das nachexilische Judentum war eine juristische Person, lange bevor ein Mensch diesen Begriff entdeckt hatte.
    Die Urvölker, welche dieser Entwicklung voraufgehen, sind vorwiegend Stammesgemeinschaften, darunter seit Beginn des 1. Jahrtausends v. Chr. die südarabischen Minäer, deren Name um 100 v. Chr. verschwindet, die ebenfalls um 1000 als Stammesgruppe auftauchenden, aramäisch sprechenden Chaldäer, welche 625–539 die babylonische Welt regierten, die Israeliten vor dem Exil [Eine lose Gruppe edomitischer Stämme, die mit Moabitern, Amalekitern, Ismaeliten u. a. damals eine ziemlich gleichförmige, hebräisch sprechende Bevölkerung bildeten.] und die Perser des Cyrus, [Vgl. Bd. II, S. 757.] und diese Form ist so stark im Fühlen der Bevölkerung, daß die seit Alexander sich überall entwickelnden Priesterschaften den Namen verschollener oder fiktiver Stämme erhalten. Bei den Juden und den südarabischen Sabäern heißen sie Leviten, bei Medern und Persern Magier – nach einem ausgestorbenen medischen Stamme –, bei den Anhängern der neubabylonischen Religion nach der inzwischen ebenfalls zerfallenen Stammesgruppe Chaldäer. Aber hier wie in allen anderen Kulturen hat die

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