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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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zitiert I. Thess. 4, 15–17 ein anderes, das in den Evangelien fehlt. Dahin gehören die unschätzbaren und von den Forschern – die sich von dem Evangelienton beherrschen lassen – mißachteten Angaben des Papias, der um 140 noch eine Menge guter mündlicher Überlieferung sammeln konnte. Das Wenige, was von seinem Werk erhalten ist, genügt, um den apokalyptischen Inhalt der täglichen Gespräche Jesu erkennen zu lassen; Mark. 13 und nicht die »Bergpredigt« gibt den wirklichen Gesprächston. Aber als
seine
Lehre sich in die Lehre
von ihm
verwandelt hatte, ging auch dieser Stoff aus seinen Reden in den Bericht von seiner Erscheinung hinüber. In diesem einen Punkt ist das Bild der Evangelien notwendig falsch.] Einen andern Begriff von Religion hat er nie gehabt, und einen andern besitzt überhaupt keine wahrhaft innerliche Zeit.
Religion ist durch und durch Metaphysik,
Jenseitigkeit
, Wachsein inmitten einer Welt, in welcher das Zeugnis der Sinne nur den Vordergrund aufhellt; Religion ist das Leben in und mit dem Übersinnlichen, und wo die Kraft zu solchem Wachsein, die Kraft, auch nur daran zu glauben, fehlt, da ist die wirkliche Religion zu Ende. Mein Reich ist
nicht
von dieser Welt – nur wer das ganze Gewicht dieser Einsicht ermißt, kann seine tiefsten Aussprüche begreifen. Erst späte, städtische Zeiten, die solcher Einblicke nicht mehr fähig waren, haben den Rest von Religiosität auf die Welt des äußeren Lebens bezogen und die Religion durch humane Gefühle und Stimmungen, die Metaphysik durch Sittenpredigt und Sozialethik ersetzt. In Jesus findet man das gerade Gegenteil. »Gebt dem Cäsar, was des Cäsars ist« – das heißt: Fügt euch den Mächten der Tatsachenwelt, duldet, leidet und fragt nicht, ob sie »gerecht« sind. Wichtig ist nur das Heil der Seele. »Sehet die Lilien auf dem Felde« – das heißt: Kümmert euch nicht um Reichtum und Armut. Sie fesseln
beide
die Seele an die Sorgen dieser Welt. »Man muß Gott dienen oder dem Mammon« – da ist mit dem Mammon die
ganze
Wirklichkeit gemeint. Es ist flach und feige, die Größe aus dieser Forderung fortzudeuten. Zwischen der Arbeit für den eignen Reichtum und der für die soziale Bequemlichkeit »aller« hätte er überhaupt keinen Unterschied empfunden. Wenn er vor dem Reichtum erschrak und wenn die Urgemeinde in Jerusalem, die ein strenger Orden war und kein Sozialistenklub, den Besitz verwarf, so liegt darin der größte überhaupt denkbare Gegensatz zu aller »sozialen Gesinnung«: nicht weil die äußere Lage alles, sondern weil sie nichts ist, nicht aus der Alleinschätzung, sondern aus der unbedingten Verachtung des diesseitigen Behagens gehen solche Überzeugungen hervor. Aber es muß allerdings etwas da sein, dem gegenüber alles irdische Glück zu nichts versinkt. Es ist wieder der Unterschied von Tolstoi und Dostojewski. Tolstoi, der Städter und Westler, hat in Jesus nur einen Sozialethiker erblickt und wie der ganze zivilisierte Westen, der nur verteilen, nicht verzichten kann, das Urchristentum zum Range einer sozialrevolutionären Bewegung herabgezogen, und zwar aus Mangel an metaphysischer Kraft. Dostojewski, der arm war, aber in gewissen Stunden fast ein Heiliger, hat nie an soziale Verbesserungen gedacht – was wäre der Seele damit geholfen, wenn man das Eigentum abschafft?
7
    Unter den Freunden und Schülern, die der furchtbare Ausgang des Zuges nach Jerusalem innerlich vernichtet hatte, verbreitete sich nach einigen Tagen die Kunde von seiner Auferstehung und Erscheinung. Was das für solche Seelen und eine solche Zeit bedeutete, können späte Menschen niemals ganz nachempfinden. Damit war die Erwartung der gesamten Apokalyptik jener magischen Frühzeit erfüllt: am Ende des gegenwärtigen Aion der Aufstieg des erlösten Erlösers, des zweiten Adam, des Saoshyant, Enosh oder Barnasha oder wie man »ihn« sonst noch vorstellen und nennen mochte, in das Lichtreich des Vaters. Damit war die verkündete Zukunft und das neue Weltalter, »das Himmelreich«, unmittelbare Gegenwart geworden. Man befand sich im entscheidenden Punkt der Heilsgeschichte. Diese Gewißheit hat den Weltblick des kleinen Kreises vollkommen verändert. »Seine« Lehre, wie sie aus seiner milden und edlen Natur geflossen war, sein inneres Gefühl vom Verhältnis zwischen Mensch und Gott und dem Sinn der Zeiten überhaupt, das mit dem einen Wort Liebe erschöpfend bezeichnet war, trat zurück, und die
Lehre von ihm
trat an ihre Stelle. Als

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