Der Untergang des Abendlandes
aber vor Pilatus geführt wurde,
da traten sich die Welt der Tatsachen und die der Wahrheiten unvermittelt und unversöhnlich gegenüber
, in so erschreckender Deutlichkeit und Wucht der Symbolik wie in keiner zweiten Szene der gesamten Weltgeschichte. Der Zwiespalt, der allem freibeweglichen Leben von Anfang an zugrunde liegt, schon damit, daß es
ist
, daß es Dasein
und
Wachsein ist, hat hier die höchste überhaupt denkbare Form menschlicher Tragik angenommen. In der berühmten Frage des römischen Prokurators: Was ist Wahrheit? – das einzige Wort im Neuen Testament, das Rasse hat –
liegt der ganze Sinn der Geschichte
, die Alleingeltung der Tat, der Rang des Staates, des Krieges, des Blutes, die ganze Allmacht des Erfolges und der Stolz auf ein großes Geschick. Darauf hat nicht der Mund, aber das schweigende Gefühl Jesu mit der andern, über alles Religiöse entscheidenden Frage geantwortet:
Was ist Wirklichkeit?
Für Pilatus war sie alles, für ihn selbst nichts. Anders kann echte Religiosität der Geschichte und ihren Mächten niemals gegenüberstehen, anders darf sie das tätige Leben nie einschätzen, und wenn sie es dennoch tut, so hat sie aufgehört, Religion zu sein, und ist selbst dem Geist der Geschichte verfallen.
Mein Reich ist nicht von dieser Welt
– das ist das letzte Wort, von dem sich nichts abdeuten läßt und an dem jeder ermessen muß, wohin Geburt und Natur ihn gewiesen haben. Ein Dasein, das sich des Wachseins bedient, oder ein Wachsein, welches das Dasein unterwirft; Takt oder Spannung, Blut oder Geist, Geschichte oder Natur, Politik oder Religion: hier gibt es nur ein Entweder-Oder und keinen ehrlichen Vergleich. Ein Staatsmann kann tief religiös sein, ein Frommer kann für sein Vaterland fallen – aber sie müssen beide wissen, auf welcher Seite sie wirklich stehen. Der geborne Politiker verachtet die weltfremden Betrachtungsweisen des Ideologen und Ethikers mitten in seiner Tatsachenwelt – er hat recht. Für den Gläubigen sind aller Ehrgeiz und Erfolg der geschichtlichen Welt sündhaft und ohne ewigen Wert – er hat auch recht. Ein Herrscher, der die Religion in der Richtung auf politische, praktische Ziele verbessern will, ist ein Tor. Ein Sittenprediger, der Wahrheit, Gerechtigkeit, Frieden, Versöhnung in die Welt der Wirklichkeit bringen will, ist ebenfalls ein Tor. Kein Glaube hat je die Welt verändert und keine Tatsache kann je einen Glauben widerlegen. Es gibt keine Brücke zwischen der gerichteten Zeit und dem zeitlos Ewigen, zwischen dem Gang der Geschichte und dem Bestehen einer göttlichen Weltordnung, in deren Bau »Fügung« das Wort für den höchsten Fall von Kausalität ist.
Das ist der letzte Sinn jenes Augenblicks, in dem Pilatus und Jesus sich gegenüberstanden
. In der einen, der historischen Welt ließ der Römer den Galiläer ans Kreuz schlagen – das war sein Schicksal. In der andern war Rom der Verdammnis verfallen und das Kreuz die Bürgschaft der Erlösung. Das war »Gottes Wille«. [Die Betrachtungsweise dieses Buches ist historisch. Sie erkennt also die entgegengesetzte
als Tatsache
an. Dagegen muß die religiöse Betrachtung mit Notwendigkeit sich selbst
als wahr
, die andere
als falsch
erkennen. Dieser Zwiespalt läßt sich nicht überwinden.]
Religion ist Metaphysik, nichts anderes: Credo, quia absurdum
. Und zwar ist erkannte, bewiesene, für bewiesen gehaltene Metaphysik bloße Philosophie oder Gelehrsamkeit. Hier ist
erlebte
Metaphysik gemeint, das Undenkbare als Gewißheit, das Übernatürliche als Ereignis, das Leben in einer nicht wirklichen, aber wahren Welt. Anders hat Jesus auch nicht einen Augenblick gelebt. Er war kein Sittenprediger. In der Sittenlehre das letzte Ziel der Religion sehen, heißt sie nicht kennen. Das ist neunzehntes Jahrhundert, »Aufklärung«, humanes Philistertum. Ihm soziale Absichten zuschreiben, ist eine Lästerung. Seine gelegentlichen Sittensprüche, soweit sie ihm nicht nur zugeschrieben sind, dienen lediglich der Erbauung. Sie enthalten gar keine neue Lehre. Es waren Sprichwörter darunter, wie sie damals jeder kannte. Seine
Lehre
war einzig die Verkündigung der letzten Dinge, deren Bilder ihn beständig erfüllten: der Anbruch des neuen Weltalters, die Herabkunft des himmlischen Gesandten, das letzte Gericht, ein neuer Himmel und eine neue Erde. [Deshalb ist Mark. 13, aus einer noch älteren Schrift übernommen, vielleicht das echteste Beispiel eines Gesprächs, wie er sie täglich führte. Paulus
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